Blind gehört Alexander Liebreich

„Ich hatte Todessehnsucht“

Der Dirigent Alexander Liebreich hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer singt und spielt

© Sammy Hart

Alexander Liebreich

„Eigentlich höre ich gar keine CDs!“ Das Eingeständnis Alexander Liebreichs überrascht Publikum und Moderator gleichermaßen. Und doch hat der Dirigent eine ganz logische Erklärung für seine  Hör-Verweigerung jenseits des Konzertsaals: „Wenn ich sechs oder acht Stunden mit dem Orchester gearbeitet habe, abends noch zwei, drei Stunden beim Partiturstudium über das innere Ohr mithöre, dann möchte ich irgendwann auch mal Ruhe haben.“ Um so mutiger, dass sich der Bayer dennoch unserem „Blind gehört» live gestellt hat: Im Münchener Bang & Olufsen-Studio lauschte er gespannt den Aufnahmen – und die concerti-Leser seinen Gedanken.

 

 Mahler: 1. Sinfonie „Der Titan“, 1. Satz

 Amsterdam Philharmonic Orchestra, 
Arpád Jóo

 1995. Arts Productions

  

Das Stück kenne ich – Mahler Eins. … Wie ein Naturlaut …  Das Werk hat mich im Grunde zum Dirigieren gebracht hat: Ich habe es 1994 in der Münchner Philharmonie mit Claudio Abbado als Gastdirigent gehört und war so beeindruckt, dass ich schlichtweg nur geheult habe, weil es einfach so schön war. In der Pause bin zu ihm hin und habe gesagt: Ich muss bei Ihnen studieren. Und er sagte: Nein, ich bin kein Lehrer – aber dann hatte ich die Möglichkeit ihm über drei Jahre zu folgen, zu assistieren, zu hospitieren.
Das Werk ist ein Jugendwerk und es steckt eine unglaubliche jugendliche Sehnsucht darin, die man in dieser Jugendzeit auslebt … und für mich schon damals auch eine gewisse Weltverlorenheit. Es gab an meiner Schule, dem Goethe-Gymnasium in Regensburg, ein Werther-Syndrom, das so weit ging, dass sich acht Leute umgebracht haben, als wir den Briefroman gelesen haben. Es gab tatsächlich eine Art Euphorie ob dieses Alleinseins, um sich dann in den Tod zu stürzen: Die hat auch mich damals erfasst – ich hatte zumindest die Überlegung, mich umzubringen. Drei, vier Leute sind gemeinsam vom Schuldach gesprungen und damit ist das Ganze dann explodiert und hat eine Todes-Sehnsucht ausgelöst.

Elgar: Enigma- 
Variationen, Nimrod 


City of Birmingham Symphonie Orchestra, Simon Rattle

1995. EMI 
Classics

 

Enigma-Variationen – Nimrod: Das Rätsel … Das ist zu schnell, die Blechbläser sind zu laut am Schluss – das Ganze ist ja der Ruhepunkt dieser Variationen. … Ich habe diese Variationen zum ersten Mal von Leonard Bernstein gehört, der das wie kaum ein anderer unglaublich gesanglich nahm, um es wirklich durchzuziehen und nicht abzubrechen – hier ist es leider immer wieder neu angesetzt vom Klang, das finde ich nicht so schön. … Eine frühe Aufnahme von Simon Rattle ist das, sagen Sie? Er war ein junger Wilder, der vom Schlagzeug her kam und das merkt man hier auch – diesen Spätstil, den Bernstein hatte, wo das einfach nur ein Singen war, den hat er nicht.

Mendelssohn: 
3. Sinfonie „Schottische“, 3. Satz 


Bamberger Symphoniker, Claus Peter Flor

2006. RCA

   

Mendelssohn … Schottische, dritter Satz – die habe ich immer mal wieder gemacht. Es ist kein Kammerorchester, sondern ein Sinfonieorchester … und ein romantischer Stil, kein Norrington oder Hengelbrock, auch kein Harnoncourt – das würde man hören: Es ist ein schöner Klang, eine romantische Herangehensweise des Kollegen … das geht da-ja-da-da-da-da-da – das ist schon Bruckner-Stil, was da durchkommt. … Erstaunlich, dass er das zweite Thema im gleichen Duktus wie das erste nimmt: Es gibt bei Mendelssohn in jedem Satz ein zweites Thema – und ich glaube fest daran, dass dieses vom Tempo her unterschiedlich ist. Ich würde das schneller machen und damit vom ersten abgrenzen.

  

Brahms: 
3. Sinfonie, 4. Satz

NDR Sinfonieorchester, Günter Wand

RCA Victor

 

Das ist sehr langsam … könnte das Celibidache sein? Nein? Sie sagen, das sei derselbe Jahrgang? Vielleicht ein Karajan? Nein? … Günter Wand, klar – das war natürlich tatsächlich jemand, der immer in den langsamen Tempi gewaltet hat – und einer der wenigen, die Bruckner bei den Münchner Philharmonikern machen durften neben Celibidache. Aber in der Tat kenne ich nur Sachen, die ich auch selbst dirigiert habe – und das Werk habe ich noch nicht gemacht. Von daher kann ich jetzt nur logisch schlussfolgern: Es müsste vom Klangbild her Dvořák oder Brahms sein – Brahms? Dann müsste es Brahms’ Dritte sein – die habe ich nämlich noch nicht dirigiert und auch nie im Konzert gehört. Wenn ich schon mal einen freien Abend habe, schaue ich mir lieber Fußball an.

Bruckner: 
7. Sinfonie, 2. Satz

Münchner Philharmoniker, Sergiù 
Celibidache

2005. EMI Classics


Auch da muss ich nach dem Ausschlussverfahren vorgehen, denn ich kenne das Werk nicht, wohl aber die Musiksprache: Das muss Bruckner sein. Jetzt muss ich ausschließen, was ich dirigiert habe und welcher Stil es sein könnte: Ich glaube nicht, dass es eines der frühen Werke ist, denn ich habe die Dritte, Vierte, Fünfte, Siebte, Achte gemacht – ich vermute, dass es die Neunte ist: Könnte das sein? Nein – es ist doch Bruckners Siebte? Und Sie sagen, hinsichtlich der Interpreten sei es ein Heimspiel – rechts oder links der Isar? Ja, auch wir in München haben Wasser … dann müssen es die Philharmoniker sein, denn die haben ja Bruckner aufgenommen.

Schubert: 9. Sinfonie „Die 
Große“, 3. Satz

Staatskapelle Dresden, Colin Davis

1997. RCA Legacy

  

Das ist ein klassischer dritter Satz einer Sinfonie, die ich vermutlich aber noch nicht gemacht habe … ein Schumann oder Schubert? Die große C-Dur? … Das ist schön schlank musiziert – gerade was Schubert angeht, bin ich kein Anhänger des extrem breiten Klangs. … Ob Orchester am Klangbild zu erkennen sind? Ich denke, Orchester wollen sich heute verschiedenen Klangidealen hingeben, Barockmusik so authentisch spielen wie anderes. Vielleicht ist das ein Irrweg und man sollte sich besser spezialisieren, aber die meisten Orchester wollen tatsächlich diese Flexibilität. Hören Sie den Bayerischen Rundfunk mit einem Thomas Hengelbrock, klingt das sehr schlicht – und wenn Sie einen Riccardo Muti haben, hat das eine andere Kapazität mit einem anderen Gewicht. Da mag es schon sein, dass es diese spezifischen Orchesterklänge nicht mehr gibt.

 Rossini: Ouvertüre zu „Robert Bruce“
 

 Orchestra Sinfonic di Milano Giuseppe Verdi, Riccardo Chailly

 2002. Decca

 

Das klingt nach Oper … ein Italiener – vom Klang her kann es nur Verdi sein … nein? Dann ist es Rossini? … ein Vorspiel zu einer der vielen seiner Opern? Da muss ich jetzt das Ausschlussverfahren versuchen: Wir haben zwölf Ouvertüren aufgenommen – von denen ist es keine … Eijeijei … vielleicht die Ouvertüre zu Die Reise nach Reims? Nein? … La Cenerentola? … Rossinis Ouvertüren sind großartige Musik: Es ist so bunt und virtuos wie Musik nur sein kann, in jeder Ouvertüre sind die Figuren der Oper präsent und es ist wie eine Kurzzusammenfassung des ganzen Werks … Vermutlich gibt es nicht mal eine Aufnahme von diesem Roberto Bruce, sondern nur die Ouvertüre davon – wie man ja auch sonst vor allem die Ouvertüren kennt: Wer kennt schon die Oper Die diebische Elster?

 Beethoven: 
7. Sinfonie, 3. Satz

 Wiener Philharmoniker, Claudio Abbado

 1998. Deutsche Grammophon

  

Beethoven … die Siebte, das Scherzo … ist das Claudio Abbado? Bei Mahler finde ich ihn überragend, doch Beethoven ist nicht sein größtes Spezialgebiet – sind das die Berliner? Nein? … Die Wiener, soso … Sie merken, ich bin auch kein so großer Freund der Wiener Philharmoniker: Das hier hat etwas Unspezifisches – doch bei Beethoven ist die Artikulation und das klare Einfordern der Artikulation essentiell. Claudio ist kein Typ, der das opulent macht im Sinne von Thielemann, sondern von seiner ganzen Art und Weise her ein leichter Dirigent. Doch diese Trennschärfe, die ich mir hier bei Beethoven wünsche, die findet rein dirigentisch einfach nicht statt, weil er das geschehen lässt. Und die Wiener damals, die wollten dirigiert werden.

 Mendelssohn: „Ein Sommernachtstraum“, Hochzeitsmarsch

 Münchener Kammerorchester, Alexander Liebreich

 Sony Classical

   

Sommernachtstraum … sehr schöne Aufnahme … also, das ist ein Orchester, das sich auskennt mit Mendelssohn. Es ist nicht die Aufnahme, die wir gemacht haben, aber sehr schön schlicht – das könnte Herreweghe sein oder Hengelbrock. Die Vibratobehandlung ist ganz klar, das ist kammermusikalisch geführt, die Bögen sehr leicht phrasiert … viel, viel flexibler als bei Flor. …

Unsere Aufnahme damals fand ich im Nachhinein fürchterlich zu schnell und überhastet an manchen Stellen und habe nur gedacht: So würde ich das nicht machen – war aber leider so, es war nicht genug geatmet. Und die Aufnahme hier ist entspannt und gut gearbeitet…. Wie, das ist wirklich meine eigene Aufnahme? Eijeijei … das finde ich jetzt sehr erstaunlich, das hätte ich wirklich nicht gedacht ….

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