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Chorfestivals im Überblick

Singen vom Glück

Zwischen Anspruch und Therapeutikum: Chorfestivals sind weitaus mehr als nur rein musikalische Veranstaltungen

vonChristian Schmidt,

Singen ist gesund, hilft Ängste abbauen und macht glücklich, so steht es auf jedem dritten Gesundheitsforum, jährlich mindestens einmal in der Apothekenumschau, und immer wieder gern schreiben es gleichermaßen die allgewaltigen Lifestylemagazine. Die physische Wirkung auf Körper und Seele scheint jeden anderen Sport in den Schatten zu stellen. Und dazu macht es auch noch Spaß. Das alles sind zwar keine neuen Erkenntnisse, aber im postmodernen Zeitalter der Lebenskrisler und Sinnsucher dürfte es weniger die Musik selbst als vielmehr die therapeutische Wirkung des Singens sein, die das Chorwesen aus der geschmähten Schmollecke biederer Vereinsmeierei befreit und zum neuen Trend gemacht hat.

Das gemeinsame Erlebnis steht an erster Stelle, eine Art Erweckungsbewegung durch die Entdeckung der eigenen Stimme. Nach der Zeit des Nationalsozialismus war das gemeinschaftliche Singen verpönt, galt als bürgerlich, geschichtsvergessen und Gleichmacherei. Inzwischen aber, gespeist durch die Globalisierung der guten Laune von Skandinavien über das Baltikum bis nach Amerika, ist die Lust am Gruppenerlebnis und an der gemeinschaftlichen Gesundheitsförderung wieder gewachsen. Jenseits der zarten Zuckerbutterschicht professioneller Ensembles, Emotionalisierungswundern wie den berühmten Knabenchören, die sich regelmäßig beim Tölzer Knabenchorfestival treffen, und Spezialensembles – beispielsweise für Alte Musik – gedeihen in Deutschland mehr als 60.000 Chöre, in denen mehr als 3,5 Millionen mehr oder weniger ausgebildete Laien singen.

Chorfestivals: Brückenbau und freundschaftlicher Austausch

Dementsprechend illuster ist die Menge der Chorfestivals diesseits und jenseits der deutschen Grenzen. Seien sie mit oder ohne Wettbewerbscharakter konzipiert – alle eint die besondere Stimmung in den Gastgeberstädten, die von dem ungeahnten Bettenboom und der kulturellen Belebung ihrer Zentren eigentlich nur profitieren können. Ob bei den „Chortagen“ in Hannover, beim „Internationalen Chorfestival“ in Sonthofen oder den biennalen „World Choir Games“, die 2018 in Südafrika stattfinden – letztlich geht es überall um die Atmosphäre, um spontane Platzkonzerte im öffentlichen Straßenraum und um den freundschaftlichen Austausch Gleichgesinnter, die sich gegenseitig als Publikum wie Akteur befeuern.

Mitsingkonzert beim Deutschen Chorfest
Mitsingkonzert beim Deutschen Chorfest © Roberto Bulgrin

Im Vierjahresrhythmus etwa lädt der Deutsche Chorverband zu seinem auf Gigantomanie angelegten „Deutschen Chorfest“, der Musikrat lobt ebenfalls alle vier Jahre seinen Chorwettbewerb zuerst auf regionaler, dann auf Bundesebene aus, während andere Veranstalter wie das „Internationale Kinderchorfestival Dresden“ auf das naheliegende Motto des Brückenbaus und des freundschaftlichen Austausches bauen. Diese Vokabeln der Annäherung dürfen letztlich bei keiner Festivalbeschreibung fehlen, immer geht es um die beglückende Grunderfahrung des Gesangs und dessen politisch wie menschlich grenzüberschreitende Kraft.

So ist zum Beispiel auch der Erfolg des Regenbogenfestivals „Various Voices“ zu erklären, das im Mai 2018 zum 14. Mal die Vielgestalt lesbisch-schwuler Chöre präsentiert. Vier Tage lang sind alle Bühnen des Münchner Gasteigs für nahezu 100 Chöre und Ensembles reserviert. Natürlich spielt nicht nur hier das Beiprogramm eine wesentliche Rolle für die Motivation, an einem Festival teilzunehmen, bei dem es fast sekundär sein dürfte, ob man nun singender Akteur oder begeisterter Fan ist.

Wer gerne singt, hört auch gerne zu

Wie kaum ein zweites hat das „Festival Chor@Berlin“ die Chance erkannt, im Spagat zwischen professionellem Konzertangebot und ambitionierter Ansprache von Freizeitsängern nicht zuletzt ein riesiges Publikumspotenzial auszuschöpfen. Wer gerne singt, hört schließlich auch gerne zu. Neben konventionellen Konzerten gibt es hier Dirigierkurse und Workshops für die rhythmische Selbsterfahrung, Interpretationsleitfäden und Stimmbildung im Akkord. Letzthin widmen sich die Begleitveranstaltungen kaum versteckt der eingebildeten oder tatsächlichen therapeutischen Wirkung des Gesangs.

Sänger beim Festival "Chor@Berlin"
Sänger beim Festival «Chor@Berlin» © Christoph Müller-Girod

Damit treffen die Macher besonders in Berlin einen hochsensiblen Nerv. Denn nicht umsonst hat gerade in der Hochburg der Singlehaushalte das Singen wieder Hochkonjunktur, ist das einstige Volkslieder-Klischee mit ihrem Makel des Verstaubten der Spannung zwischen aufmerksamem In-sich-Hineinhören und gesundheitsförderlichem Entäußern gewichen. Chor@Berlin macht kaum einen Hehl daraus, sich vor allem an jene Zuhörer zu richten, die gern selbst singen (würden). Oder wenigstens anderen dabei bewundernd zusehen und so die Magie einer Art von menschlicher Kommunikation wahrnehmen, die wohl noch älter als die Sprache ist und damit auch einen gewissermaßen archaischen Anstrich hat.

Heilung der geschundenen Individualistenseelen

Musik als Balsam für die Seele und sogar als Therapeutikum spielt gerade nicht nur bei Kranken eine Rolle, sondern heilt auch die geschundenen Individualistenseelen. Mitsing- oder „Kann-nicht- singen“-Chöre heilen die Angst vor dem Versagen, die der frustriert terrorisierende Musiklehrer früher dem Kinde vielleicht eingebläut hat. Wer heute singt, teilt ein auf den ersten Blick vielleicht schräges Hobby, um dessen integrative Kraft man andererseits aber auch beneidet wird. Weil die hohe Nachfrage auch die Qualität befeuert, differenzieren sich Stilistik, Repertoire und auch die künstlerischen Ansprüche weit aus. Das kann man unter anderem beim „Brahmsfest“ in der Chorhochburg Wernigerode erleben. Das Städtchen am Harz verfügt selbst über drei renommierte Chöre und wird alle zwei Jahre zur Bühne für höchst ambitionierte Ensembles.

Mag die Ausprägung der Chorfestivals noch so unterschiedlich sein: Wer dort ist, erlebt Momente größter Freude, ja Euphorie. Und am Ende des Tages genießt man eben auch das: den fröhlichen Abend in einer Gemeinschaftlichkeit, die rar geworden ist in der modernen Gesellschaft.

Johannes-Brahms-Chorfestival Wernigerode:

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Die Chorfestivals im Überblick:

Chor@Berlin
Zeitraum: 22. – 25.2.2018
Ort: Berlin

International Choir Festival
Zeitraum: 27. – 30.4.2018
Ort: Antwerpen (Belgien)

On Stage
Zeitraum: 6. – 9.5.2018
Ort: Stockholm (Schweden)

Helsingborgs Körfestival
Zeitraum: 9. – 13.5.2018
Helsingborg (Schweden)

Internationaler Robert-Schumann-Chorwettbewerb
Zeitraum: 6. – 10.6.2018
Ort: Zwickau

Chortage Hannover
Zeitraum: 10. – 17.6.2018
Ort: Hannover

Sing Berlin!
Zeitraum: 4. -8.7.2018
Ort: Berlin

Europa Cantat XX
Zeitraum: 27.7. -5.8.2018
Ort: Tallinn (Estland)

Praha Music Festival
Zeitraum: 5. -9.2018
Ort: Prag (Tschechien)

Bratislava Cantat
Zeitraum: 4. – 7.10.2018
Ort: Bratislava (Slowakei)

Montana:Musica Festival
Zeitraum: 11. -14.10.2018Ort: Bad Hofgastein (Österreich)

Johannes-Brahms-Chorfestival
Zeitraum: 3. – 7.7.2019
Ort: Wernigerode

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