Wenn ich zurückdenke, war da immer Musik, von Anfang an. Ich war kaum drei Jahre alt, meine Schwester spielte Klavier – der Ton des Instruments und die Vibration haben mich sofort fasziniert. Kurz darauf habe auch ich angefangen: Ich habe alle Türen zugesperrt und heimlich gespielt. Unsere Wohnung war sehr groß, so dass niemand etwas hören konnte. Jeden Tag habe ich mich alleine ans Klavier gesetzt. Ich hatte unglaubliche Freude daran, eine Freude, die ich mit niemandem teilen wollte und konnte. Mein Vater war kurz vor meiner Geburt 1944 gestorben, und die Trauer überschattete nicht nur das eigentlich frohe Ereignis, sondern die ersten Jahre meiner Kindheit. Alle Erinnerungen, die ich an diese Zeit habe, sind mit diesem Gefühl verknüpft. Vielleicht habe ich die Türen geschlossen, weil ich mich schützen wollte, etwas für mich allein haben wollte. Einerseits waren alle sehr lieb zu mir, andererseits aber auch sehr weit weg: Meine Geschwister waren alle mindestens zehn Jahre älter. Ich fühlte mich oft allein. Das Klavier wurde mein Freund, mit ihm konnte ich spielen.
Während und nach dem Krieg sowie unter Salazars Diktatur in Portugal war an Spielsachen nicht zu denken. Meine Familie war systemkritisch, und immer wieder landete jemand aus der Verwandtschaft im Gefängnis. Als kleines Kind hat meine Familie all die Grausamkeiten von mir fern gehalten und ich konnte fast unbeschwert aufwachsen. Dies änderte sich jedoch, je älter ich wurde, je mehr ich verstand und je mehr Fragen ich stellte. Keines von uns Kindern durfte über Politik sprechen, und wir hatten Angst, draußen etwas Falsches zu sagen. Dieses Gefühl der Angst und Unsicherheit konnte ich nie ablegen. Man weiß, dass man Dinge nicht sagen darf, andererseits weiß man nicht, welche Dinge das genau sind. Als Kind lernt man, dass man besser still bleibt.
Meine Mutter war eine sehr gute Mutter, die mich bei allem begleitet und unterstützt hat. Und dann gab es noch meinen Großvater: Er war ein wunderbarer Mensch, der uns viele Wege durchs Leben aufgezeigt hat. Er hat uns Kindern ein großes Geschenk gemacht mit seiner guten Seele und seinem großen Herzen. Immer hatte er ein liebes Wort für uns übrig. Er hat uns das Menschsein vorgelebt.
Mein erster Auftritt im Alter von fünf Jahren hat mich in besonderer Weise geprägt. Ich ging auf die Bühne, und da stand dieses große schwarze Ding. Ich wusste nicht, was es ist, hatte keine Ahnung, dass es so etwas wie Konzertflügel gab! Das Gold im Innern und die langen, offenen Saiten – ich fühlte mich wie im Film! Also stellte ich mich auf den Hocker und schaute erst einmal hinein. Das Publikum begann lauthals zu lachen. Ich war verletzt! Ich konnte nicht verstehen, was da passiert war – und begann zu spielen, ein Stück nach dem anderen, ohne Pause, um niemandem die Möglichkeit zu geben, mich weiter auszulachen. Dieses Ereignis hat mich sehr getroffen. Für viele Jahre wollte ich nicht öffentlich auftreten und bis heute mag ich es nicht, Konzerte zu spielen. Aber es gibt Dinge im Leben, die man tun muss, weil man die Sache an sich mag.
Ich mag Musik, ich mag es zu spielen, das bereitet meiner Seele Freude – aber ich finde es unnatürlich, für 2000 Leute zu spielen. Wenn ich mich aber dazu überwinde, macht es mich trotzdem glücklich.
„Ich habe es geschaftt, kein Berufsleben zu haben“
Familie ist für mich wichtiger als alles andere. Ich habe fünf leibliche Kinder und ein Pflegekind. Eine so große Familie zu haben, war nie mein Plan, aber ich liebe es! Es passt zu meinem Charakter. Mit kleinen Kindern war es anstrengend, Konzertreisen und den Familienalltag unter einen Hut zu bringen. Meine Mutter aber hat mir viel geholfen. Ich wurde bereits mit 41 Jahren Großmutter, mein ältestes Enkelkind ist mittlerweile 35 Jahre alt. Und wir alle lieben Musik! Keines meiner Kinder ist Musiker geworden, dafür aber ein paar meiner Enkelkinder. Mein einziger Wunsch ist, dass meine Kinder glücklich werden. Und selbst das ist nicht immer einfach. Heutzutage geht es bei der Berufswahl oft nicht mehr darum, das zu tun, was einen erfüllt, sondern eher das, was wirtschaftlichen Erfolg verspricht.
Wenn es um Kunst oder um Kreativität geht, muss man seine ganze Seele dafür hingeben. Das Wort Beruf sollte dann keine Rolle spielen. Ich habe das Gefühl, dass ich es geschafft habe, kein Berufsleben zu haben. Ich habe eine Arbeit, ich muss mich vorbereiten für Reisen und Auftritte – aber für mich ist das kein Beruf. Musiker sollten im Geiste Amateure bleiben, denn dann bleibt man rein und wird nicht beeinflusst von Wünschen, die nichts mehr mit dem Ausdruck zu tun haben.
Wenn man ein Künstler ist, muss man die Kunst respektieren und sie und sich selbst nicht verkaufen wollen. Nicht jeder kann ein erfolgreicher Künstler sein. Soll jemand, der nicht dem höchsten Anspruch standhalten kann, wirklich versuchen, diesen Weg einzuschlagen? Meine Antwort ist: nein! Ich sehe das in meinen Online-Kursen, die jeder besuchen kann: Die besten Schüler sind Amateure, das sind wahre Künstler! Sie haben sich ihre Begabung erhalten, obwohl sie einen anderen Hauptberuf ergriffen haben. Das finde ich schön: Die Musik wird respektiert, weil es nicht darum geht, sie wirtschaftlich nutzbar zu machen. Das klingt jetzt vielleicht egoistisch, weil ich selbst erfolgreich an meinem Instrument bin und andere nicht. Ich hatte viel Glück. Und ich habe mir diesen Erfolg nie gewünscht. Es war Schicksal. Wenn man all seine Energie in den Verkauf – in Wettbewerbe, Preise, Eigenwerbung – steckt, dann bleibt am Ende nicht viel übrig.
Immer wieder wollte ich meine Karriere beenden. Und ich habe es 2018 sogar getan, nur um dann meine Entscheidung zu widerrufen. Das hat einige Menschen sehr gegen mich aufgebracht. Sie waren überfordert und konnten nicht verstehen, dass ich meine Meinung geändert hatte. Plötzlich war ich wieder da und wollte spielen. Ich hatte einfach auf mein Gefühl gehört – ein Gefühl, das sich verändert hatte. Oft waren meine Rückzugsgedanken eine Reaktion auf den Stress, den das Konzertleben mit sich bringt.
Ich habe unterrichtet im einen Land, hatte ein Familienleben im anderen, gab Konzerte weltweit und hatte mein eigenes Kunstzentrum in Portugal. Kein Wunder, dass es mir zuviel wurde – man kann nicht 24 Stunden am Stück arbeiten! Man muss schlafen, essen, sich ausruhen, zu sich kommen. Ich musste mir die Frage stellen: Was kann ich aus meinem Leben streichen, damit ich mich wohler fühle? Und die Antwort war und ist immer: die Konzerte! Da halten einen die Leute für verrückt. Es gibt so viele Pianisten, man braucht mich doch gar nicht! Man muss sich nur umdrehen, und schon stehen da tausend andere. Würde man mich wirklich vermissen? Ich glaube nicht.
„Ich denke nicht darüber nach, was in meinem Leben nicht optimal gelaufen ist“
Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Maria, die als Künstlerin auf der Bühne steht, und der Maria, die für ihre Familie und ihre Freunde da ist. Man sieht mich häufig als klein, zierlich, zart und fragil an. Wenn ich mich selbst beschreiben müsste, würde ich bis auf die Größe alles im Gegenteil sagen! Ich bin stark, aggressiv, direkt, kriegerisch. Ich kann auch nett sein, aber nur, wenn man auch nett zu mir ist. Ich habe meinen eigenen Kopf, meine eigene Stimme und bin wenig beeinflussbar. Und wenn ich an etwas glaube, kämpfe ich dafür.
Ein Lebensmittelpunkt neben meinem Zuhause in der Schweiz ist definitiv mein Belgais Center of Arts in Portugal. Ich liebe den kleinen, intimen Saal, die Kurse. Niemand ist da, um zu zeigen, was er kann, sondern um Kunst zu teilen. Es herrscht ein anderer Geist, eine besondere Stimmung. Wenn ich dort bin, arbeite ich im Garten und auf dem Grundstück, ich koche für sieben bis acht Leute jeden Tag, mache den Haushalt, spüle Berge von Geschirr, und nie gibt es eine Minute, in der ich denke: Ach, wenn ich das nicht machen müsste! Ich mache das gerne. Ich freue mich über die Ordnung, die Sauberkeit. Und ich achte dabei auf die Umwelt.
Die Menschheit bezahlt gerade für die Fehler, die sie gegenüber unserem Zuhause, der Erde, gemacht hat. Nun sind die Konsequenzen da: Es gab immer Katastrophen, aber derzeit wird deutlich, dass wir selbst die Verursacher sind. Es ist schrecklich, was um uns herum passiert! Ich finde es gut, dass Leute nun nachdenken und hoffentlich auch handeln. Das Problem ist aber, dass es immer noch viel zu viele Menschen gibt, die das alles nicht akzeptieren wollen oder können. Dabei ist die Gelegenheit jetzt da! Jeder sollte dazu beitragen, das Leben auf diesem Planeten zu erhalten: Nachhaltiger leben, weniger die Umwelt verschmutzen und sie mehr schützen, keine Tiere konsumieren. Die Liste der Möglichkeiten ist unendlich lang. Und jeder winzige Aspekt im eigenen Handeln kann Veränderung bringen. Dabei darf man auch gerne einmal darauf verzichten, für jedes positive Verhalten ein Lob zu erwarten. All das sind doch Selbstverständlichkeiten, die zum Erhalt des eigenen Lebens beitragen!
Ich vermeide es, darüber nachzudenken, was in meinem Leben nicht optimal gelaufen ist. So habe ich zum Beispiel unglaublich kleine Hände und kann nur ein Drittel des regulären Repertoires und keinen Brahms spielen. Dabei spricht er mir aus dem Herzen, ist mir in seiner Musik ganz nah. Ich kann mich über so viel freuen, ich habe so viel mehr als andere – da möchte ich mich nicht auf das Negative konzentrieren, sondern das Positive feiern.
Das Wichtigste, was ich in meinem Leben gelernt habe, ist Toleranz, das Nicht-Einteilen in Schwarz und Weiß, Gut oder Schlecht. Das Verhalten anderer zu akzeptieren und nicht zu verurteilen. Auch, nicht egoistisch zu sein, ist eine Lebensaufgabe des Lernens. Für mich ist wichtig, in meinem Leben das zu vergessen, was nicht wichtig ist. Und weiterzubauen, weiterzuarbeiten. Der Mensch ist glücklicher, wenn er das so sehen kann. Ich tue, was ich kann, und lasse, was ich nicht kann.