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Porträt Sean Shibe

Jenseits der Klischees

Mit seinen schier unendlichen Klangwelten lädt Gitarrist Sean Shibe dazu ein, die Musik völlig neu zu entdecken.

vonEcki Ramón Weber,

Es gibt dieses Musikvideo mit Sean Shibe, zum Stück „Coral“ aus der „Suite Compostelana“ von Frederic Mompou, die Aufnahme stammt aus Shibes Album „Camino“ von 2021: Darin rasiert er sich das üppige Kopfhaar ab. Wie ein Musikvideo aus dem Independent-Rock mutet dies an. Es zeigt sich darin schon vieles, was den dreißigjährigen Gitarristen mit schottisch-japanischen Wurzeln ausmacht: überraschende Zugriffe, Konzentration, Eigenwilligkeit, auch Radikalität. Auf Klischees lässt er sich prinzipiell nicht ein. „Camino“ bringt neben Transkriptionen getragener Werke Ravels, Saties und Poulencs spanisches Repertoire. Aber völlig andere Stücke als zu erwarten wären. Shibe verzichtet beispielsweise auf Albéniz oder Granados. Stattdessen gibt es diese weniger bekannte „Suite Compostelana“ des Katalanen Mompou, inspiriert vom Jakobsweg. „,Camino‘ hat ein besonderes Konzept. Es geht um Pilgerschaft, Verweise auf das Sakrale“, erklärt Sean Shibe. „Ich wollte ein anderes Bild von Spanien zeigen, kein Album, das sich auf Flamenco und auf feurige Leidenschaft bezieht, sondern auf Nordspanien, auf Meditatives.“

Schon bei seinem Solo-Debüt auf CD 2017 hat Shibe, der als Ausgleich zu Konzertreisen selbst meditiert, nicht auf die Hits des Repertoires gesetzt: Er präsentierte ausschließlich englische Komponisten, kombinierte Stücke von John Dowland mit dessen Landsleuten aus dem 20. Jahrhundert. Schon hier beeindruckte Shibe mit verblüffendem Farbreichtum, präziser Akzentuierung und Intensität. Neugier, Forscherdrang und eine starke Persönlichkeit zeichnen auch sein Bach-Album von 2020 aus, für das er sich nicht mit überlieferten Gitarrentranskriptionen begnügte, sondern eigene Übertragungen der Lautenwerke Bachs erstellte. Seine Interpretation brachte ihm einen Gramophone Award ein, für „die beste Bach-Aufnahme aller Zeiten“ auf Gitarre.

Herausforderungen für Künstler und Publikum

Gewann den Gramophone Award für „die beste Bach-Aufnahme aller Zeiten“ auf Gitarre: Sean Shibe
Gewann den Gramophone Award für „die beste Bach-Aufnahme aller Zeiten“ auf Gitarre: Sean Shibe

Davor gab es für Shibe bereits einen Gramophone Award für das beste Konzept-Album: Auf seiner 2018 erschienenen Einspielung „SoftLoud“ hat er alte schottische Lautenmeister für akustische Gitarre arrangiert und mit Neuer Musik für E-Gitarre kombiniert. Dabei hat Shibe, ganz Tüftler, der den Dingen auf den Grund geht, selbstverständlich sämtliche Playback-Stimmen von Steve Reichs Klassiker „Electric Counterpoint“ neu aufgenommen, sich also nicht bequem beim sonst eingesetzten Zuspiel von Pat Metheny bedient. Spätestens bei Shibes Version von David Langs „Killer“, einem Stück mit Noise-Einflüssen, ursprünglich für E-Violine komponiert, wurde zudem klar: Dieser Gitarrist hat auch keine Angst vor extremen und experimentellen Positionen in der Neuen Musik. Bei einem Konzert in der Londoner Wigmore Hall Anfang 2020 verließen mehrere Besucher den Saal, als Shibe das gut einstündige E-Gitarrenstück „Ingwe“ von Georges Lentz in Rock-Lautstärke zum Besten gab. Das Stück fordere heraus, es spiegele mit seinen instrumentalen Verzweiflungsschreien dem Publikum auch die eigenen dunklen Seiten und Spannungen, sagt Shibe. „Es hat oft mehr Wert, etwas Bilderstürmerisches zu bringen als nur nette, schöne Sachen“, stellt er fest.

Einen authentischen Dialog mit dem Publikum von heute, das ist es, was der Gitarrist auch in seiner Herangehensweise bei älterem Repertoire anstrebt. Dafür studiert er den historischen Kontext und versucht herauszufinden, was uns etwa ein Lautenstück im 21. Jahrhundert zu sagen hat. Er wagt große Sprünge zwischen den Epochen und stellt so neue Zusammenhänge her, bringt Neues und Raritäten neben kanonisierten Werken. Dieser frische Zugriff tut auch einem Evergreen wie dem „Concierto de Aranjuez“ von Joaquín Rodrigo gut, an dem kein Gitarrist vorbeikommt. „Wir müssen unsere eigene Persönlichkeit, unsere eigene Farbe einbringen. Als Interpret ist das mein Job“, sagt Sean Shibe lapidar über seinen stilsicheren, höchst individuellen, akribisch forschenden Zugang auf die Gitarrenmusik. Weitere Überraschungen vom Künstler, der in seiner Geburtsstadt Edinburgh und in Berlin-Friedrichshain lebt, sind zu erwarten – zum Glück für die Musikwelt.

CD-Tipp

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