Interview Roger Norrington

„Der Dirigent muss nur die Regeln kennen“

Klanggestalter und individueller Interpret? Sir Roger Norrington hält nichts von solchen Allüren am Pult: Der Mann mit dem Taktstock habe vor allem für Freude und Selbstvertrauen im Orchester zu sorgen

© Manfred Esser

Sir Roger Norrington

Sein Ideal des vibratolosen Spiels hat Musikgeschichte geschrieben. Doch Roger Norrington zählt nicht nur zu den großen Pionieren der historischen Aufführungspraxis, sondern zu den Grandseigneurs der internationalen Dirigentenszene überhaupt. 1997 als Knight Bachelor geadelt, 2012 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, sieht der überaus gründliche Partiturenleser dabei in Großbritannien wie Deutschland seine künstlerische Heimat – was den „crazy old man“, der während der Proben gern einmal die Schuhe auszieht, indes nicht vom Reisen durch die Welt abhält.

Sir Roger, wenn Ihre Enkelkinder Sie fragen, was ein Dirigent tut – was antworten Sie dann?

Dann sage ich, dass der Dirigent der Koch ist. Er stellt nicht die Zutaten her, aber er muss sie zubereiten – etwa zu einem hervorragenden Kuchen oder einem leckeren Abendessen. Wenn ein Gericht bestellt wird, dann kann der Koch nicht sehr viel für die Grundzutaten und dafür, wie sie von Natur aus schmecken: Aber er kann die Speise würzen.

Und was bedeutet das für Ihre konkrete Arbeit?

Der Dirigent ist zuallererst dafür da, dem Orchester Freude und Selbstvertrauen zu geben. Die Musiker müssen unter seiner Leitung eine angenehme Zeit haben. Und was ich meinen Enkeln noch erzählen würde: Ein Dirigent ist derjenige, der die Regeln kennt, nach denen musiziert werden muss, denn die sind in jeder Epoche andere. In einer Haydn-Sinfonie brauchen Sie keine mutwillige Interpretation: Sie brauchen keinen Dirigenten, der dies will oder jenes – er muss nur die Regeln kennen.

Und warum behaupten dann viele Kritiker, dass der Dirigent als Interpret eine große Rolle spiele?

Keine Ahnung. Aber das kommt sicher von diesem romantischen Bild, dass der Musiker ein Held ist, ein Gott. Bei den Dirigenten ist zweifellos Gustav Mahler dafür verantwortlich: Der hat die von ihm dirigierten Werke anderer Komponisten sehr stark verändert und auch sonst der Musik sehr gerne seinen persönlichen Stempel aufgedrückt. Auch der ehemalige Berliner Chefdirigent Furtwängler war so ein großer Interpretierender – doch man kann eben auch zu individuell und erfindungsreich sein. Nicht, dass meine Aufführungen keine Individualität und Charakter besäßen: Aber es ist nicht meine Aufgabe, die Musik zu verändern.

Da erstaunt es aber, dass in Ihrer Biografie zu lesen ist, Sie seien ein großer Bewunderer von Furtwängler gewesen

… nein, ich habe ihn lediglich gesehen. Okay, ich bewunderte ihn auch, aber damals war ich zwölf Jahre alt.

Zurück in die Gegenwart, in der Sie erst vor kurzem von einer längeren Kanada-Reise in Ihr britisches Landhaus zurückgekehrt sind. Was hat Sie in die Neue Welt getrieben?

Ich habe das Toronto sowie das Montreal Symphony Orchestra dirigiert – das mache ich schon seit 25 Jahren. Und zuvor war ich in Toronto beim Royal Conservatory of Music und habe mit einem hervorragenden Studentenorchester gearbeitet. Ich mag die Arbeit mit Studenten, denn ich möchte das, wofür ich brenne, an die nächste Generation weitergeben.

In Toronto ist das die fünfte Sinfonie von Ralph Vaughan Williams gewesen – dabei gelten Sie doch als Angehöriger der Alte Musik-Szene.

Für Vaughan Williams habe ich mich schon immer interessiert – und ich liebe es, ihn Menschen nahezubringen, die ihn überhaupt noch nicht kennen. Die jungen Leute in Toronto waren völlig fasziniert von dem Stück: Ihnen war die pure Lust an dem Klang anzumerken, den dieser Komponist schafft. Wir haben die ganze Sinfonie mit quasi „reinem“ Klang musiziert, ohne jedes Vibrato in den Streichern – und da es ein sehr spirituelles Werk ist, klingt diese Reinheit auch sehr passend. Doch ebenso mochten sie wie ich auch das typisch Englische dieser Musik.

Und was ist in der Musik typisch englisch?

Das ist bei verschiedenen großen englischen Komponisten der Moderne zu hören – bei Elgar, Britten, William Walton. Im Allgemeinen ist es schwer zu sagen, worin diese „English-ness“ besteht – nur bei Vaughan Williams ist es ganz einfach: Er sammelte englische Volkslieder. Allerdings nicht, um diese einfach in seinen Werken zu zitieren, das wäre dann wohl keine große Musik geworden; nein, er hat es in seinen Sinfonien geschafft, das Schlichte und Eingängige dieser Volkslieder auf sein eigenes musikalisches Schaffen zu übertragen: Er wollte einfach englisch klingen. Und eben so wird seine Musik ja auch, etwa in Deutschland, wahrgenommen: So wie Verdis Musik als italienisch gilt und Debussys als französisch – und Brahms als deutsch. Auch wenn Ihr in Deutschland natürlich nicht merkt, dass es ausgesprochen deutsche Komponisten gibt: Das hört man wohl nur jenseits der Landesgrenzen.

Nun arbeiten Sie ja schon sehr lange in Deutschland, waren Jahre Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart. Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Kontakte mit dem deutschen Musikleben?

Als ich das erste Mal nach Deutschland kam, war es sehr viel schwieriger für mich, nach meinen Vorstellungen zu arbeiten. Alles war so ernst während der Proben, und so wollten auch die Musiker sein. Ich versuchte, ein Lächeln zur Arbeit mitzubringen und den Orchestern zu vermitteln, dass es Spaß macht zu musizieren – gerade die Berliner Philharmoniker wirkten in ihrer Ernsthaftigkeit manchmal schon geradezu unglücklich. Weshalb ich auch die Stücke so auszuwählen versuchte, dass die deutschen Orchester nicht in ihrem Ernst verharren konnten.

Wie sah das konkret aus?

Ich vermied etwa Bruckner, der damals unglaublich gern gespielt wurde – es durfte auf keinen Fall etwas Schwerblütiges sein; Haydn, Mozart, auch ein bissiger Beethoven, das war besser. Als ich dann als Chefdirigent nach Stuttgart kam, war bereits eine andere Zeit in Deutschland angebrochen, aber ich habe ähnliche Anflüge heiligen Ernstes später nochmal nach der Wiedervereinigung erlebt beim Leipziger Gewandhausorchester. Ernsthafte Heiterkeit: Das ist es, was mir vorschwebt – schließlich hat die meiste Musik doch immer noch irgendetwas mit Tanz zu tun.

Wenn Klassikliebhaber hierzulande gefragt würden, was ihnen zu Roger Norrington einfällt, dann wäre das vermutlich die Sitzordnung des Orchesters, die Sie stets verändern. Ein rein äußerliches Merkmal – oder offenbart sich darin auch eine Kernidee Ihres Musizierens?

Ja, ich glaube, das wäre tatsächlich eine sehr tiefreichende Feststellung, denn ich habe in den letzten drei, vier Jahrzehnten versucht, möglichst jeden Aspekt des Musizierens noch einmal neu zu überprüfen. Das fängt natürlich mit der Partitur an: Steht im Druck wirklich das, was der Komponist gemeint hat? Da muss man sich dann die Autographe und die Erstdrucke anschauen und das abgleichen. Ein anderer wesentlicher Punkt sind die Instrumente: Stammen sie aus der Zeit oder sind sie jünger? Dann kann man sich Gedanken über die Zahl der Orchestermusiker machen: Brahms etwa hat nur acht erste Geigen verwandt!

Für heutige Verhältnisse sehr wenig …

… unglaublich wenig! Doch wenn man wie heute sechzehn erste Geigen hat, muss man eigentlich auch die Holzbläser verdoppeln. So wurde das auch gemacht, als etwa die Wiener Philharmoniker in den Musikverein umzogen und es mehr Platz für die Geigen gab: Das ist eine Frage der Balance. Und dann fragt man sich natürlich, wie die Sitzverteilung war: Was erwartete Brahms, was Mahler? Auch Haydn und Beethoven hatten bestimmte Vorstellungen: die Hörner auf der linken, die Trompeten auf der rechten Seite, die Violinen im Dialog gegenüber. Insofern bringe ich nichts durcheinander, sondern kehre lediglich zu der Sitzordnung zurück, die der Komponist erwartet hat.

Gilt das auch für das vibratolose Spiel? Ganz gleich, ob barocke, romantische oder moderne Musik: Bei Ihnen spielen die Streicher stets ohne Vibrato. Was für einen speziellen Klang sorgt – und auch für eine andere Art des Musizierens?

Auf jeden Fall. Von Joseph Joachim, dem großen Berliner Geiger, stammt der treffende Satz: Der Ausdruck der Geige kommt von der edlen Kantilene des Geigenbogens – wenn ein Geiger, gar ein Solist, die ganze Zeit mit Vibrato spielt, zeigt er nur, dass er das Instrument nicht beherrscht, denn das Vibrato ist lediglich Ersatz für echtes Gefühl. Das hat er Ende des 19. Jahrhunderts gesagt: Ich versuche also, den verlorenen Klang des neunzehnten Jahrhunderts aufzuspüren, in dem ich non vibrato spielen lasse. Wie zu Joachims Zeit müssen die Musiker dann mehr mit dem Bogen machen. Der Klang wird lauter und weicher, sie lassen ihr Instrument mehr und flexibler sprechen. Wenn Sie dagegen dauernd vibrieren würden, dann verlören Sie die Harmonien und der reine Ton hätte keine Chance.

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