Obwohl der Termin mit Raphaela Gromes per Zoom stattfindet, hat man während des Gesprächs mit der Cellistin das Gefühl, mit ihr im Wohnzimmer zu sitzen. Gemütlich trinkt sie eine Tasse Tee, blättert durch das Repertoire in „A Cellist’s Companion“ und zeigt ihren wunderschönen Ausblick auf den Starnberger See.
Das Cello-Repertoire ist erfreulich groß, trotzdem sind Sie immer auf der Suche nach unbekannten oder vergessenen Werken. Was reizt Sie daran, Musik wiederzuentdecken?
Raphaela Gromes: Das ist genau der Punkt: Das Cellorepertoire ist groß, doch es wird nur ein Bruchteil davon in den Konzertsälen gespielt. Ich bin immer neugierig, was noch alles in den Bibliotheken schlummert, und wenn ich zufällig auf etwas stoße wie auf Jacques Offenbachs „Hommage à Rossini“ oder auf Richard Strauss’ Urfassung der F-Dur-Cellosonate, bin ich gleich Feuer und Flamme.
Wie geht man vor, wenn man sich auf die Spuren verlorener Werke macht?
Gromes: Wenn man ein Thema hat, kann man gut recherchieren. So habe ich beispielsweise in dem Buch „A Cellist’s Companion“ gelesen, dass es die „Hommage à Rossini“ gibt, allerdings fand ich keine Noten dazu. Ein Offenbach-Experte aus Paris hat mir letztlich geholfen, die verstreuten Partiturseiten wiederzufinden. Man kann aber auch Kontakt zu Verlagen oder Archiven aufnehmen. Das habe ich immer wieder bei verschiedenen Projekten zum Beispiel beim Archiv „Frau und Musik“ in Frankfurt getan und dort recherchiert.
Auf Ihrem neuen Album „Femmes“ geht es auch um in Vergessenheit geratene Musik, diesmal von Komponistinnen. Was ist uns da in den letzten Jahrhunderten verlorengegangen?
Gromes: Viel zu viel! Ich bin begeistert und schockiert zugleich: Begeistert von der Vielzahl an fantastischen Werken und schockiert darüber, dass wir davon bisher so gut wie nichts gehört haben. Ich kannte viele der Komponistinnen gar nicht, obwohl ich Musik studiert habe. Zehn Komponistinnen würde ich für das Album schon zusammenbekommen, dachte ich. Am Ende habe ich über zweihundert Komponistinnen entdeckt, die Werke für Cello und Klavier geschrieben haben. Das war eine komplett neue Welt, die sich mir geöffnet hat, und viele der großartigen Werke konnte ich gar nicht in das CD-Programm mit aufnehmen. Ich habe mich letztlich entschieden, ein Kaleidoskop zu erstellen und Komponistinnen von Hildegard von Bingen bis in die Gegenwart aus allen Regionen der Welt auf dem Doppelalbum zu präsentieren.
Eine absolute Entdeckung war beispielsweise Maria Antonia Walpurgis von Bayern, die die fantastische Barockoper „Talestri“ geschrieben hat. Insgesamt hat sich die Recherche aber als schwierig erwiesen, weil von vielen Stücken kein Notenmaterial mehr vorhanden war. Frauen durften über Jahrhunderte nicht studieren und kein Geld mit dem Komponieren verdienen, weshalb ihre Werke oft nicht verlegt wurden und der Nachwelt nicht erhalten sind. Daher ist die Arbeit von Archiven so wichtig und sollte von staatlicher Seite finanziell viel stärker unterstützt werden.
Man merkt, Sie sind sehr offen und wissbegierig. Woher nehmen Sie Ihre Ideen und Inspiration?
Gromes: Oft vom Reisen. Wenn ich in der Natur oder in einer Stadt unterwegs bin, assoziiere ich damit immer viel und bekomme unterschiedliche Ideen. Die Anregung zu diesem Album stammt aber tatsächlich von einer guten Freundin von mir, die gerne mehr Musik von Komponistinnen hören wollte und kaum etwas dazu gefunden hat.
Sie sind ein großer Filmmusik-Fan und nehmen Werke aus „Star Wars“ oder „Der Herr der Ringe“ auf Ihre Alben. Wie passt das mit dem Klassik-Repertoire zusammen?
Gromes: Ich gehöre zur Generation, die mit diesen Filmen aufgewachsen ist. Deswegen durfte auf dem „Femmes“-Album auch nicht Rachel Portman fehlen, die 1997 als erste Frau den Oscar für die beste Filmmusik gewonnen hat. Auch die Oscar-Gewinnerin Billie Eilish ist darauf vertreten mit ihrem James Bond-Song „No Time to Die“. Als Bonustrack oder Zugabe in meinen Konzerten wähle ich immer gerne zum Programm passende Filmmusik aus, wie auch für „Femmes“ noch den hinreißenden Blues „Sister“ aus „Die Farbe Lila“.
In der Klassik ist es eher unüblich, Musikvideos zu drehen. Diese sind aber Teil Ihrer Arbeit. Was möchten Sie mit den Videos vermitteln?
Gromes: Kino und Film sind eine Leidenschaft von mir. Schon in der Schule habe ich mit meinen Freundinnen Theaterstücke einstudiert und Filme gedreht. In meinen Videos verbinde ich die Sprache der Bilder mit jener der Musik und freue mich, wenn sie den Leuten gefallen. Aber eigentlich drehe ich die Clips hauptsächlich, weil es mir unglaublich viel Spaß macht! Und im Fall von meinem kürzlich erschienen Video zu „Dreaming“ von Amy Beach auch, um als Musikerin auf die Zerstörung unserer Natur aufmerksam zu machen und die Menschen zu einem achtsameren Umgang mit der Umwelt zu bewegen … Das Bild des untergehenden Cellos im Wasser ist doch wirklich schockierend und setzt sich in den Köpfen fest.
Sie gehen mit Ihrer Musik auch in Gefängnisse oder Alten- und Behindertenheime. Wie erleben die Menschen dort Musik?
Gromes: Das ist ganz unterschiedlich – auch innerhalb dieser Orte. Manchmal komme ich in Heime, wo jeder in seiner eigenen Welt scheint und ich mich frage, ob die Musik überhaupt bei ihnen ankommt. Auf der anderen Seite ist es bewegend, wie man mit Musik die Stimmung, die Energie in einem Raum ins Positive wandeln kann. Und wenn nach dem Konzert jemand mit strahlenden Augen auf mich zukommt und sagt, was für ein tolles Erlebnis das war, dann weiß ich, dass ich etwas Sinnvolles getan habe.
Sie unterstützen auch die Organisation SOS Kinderdörfer weltweit. Was gibt Ihnen die Arbeit mit Kindern zurück?
Gromes: Auch da kommt es auf die Grundlage an. Teilweise ist es schwieriger, an Jugendliche ranzukommen, weil klassische Musik in dem Alter natürlich total uncool ist. Aber grade bei kleineren Kindern, die noch offen sind, bereitet mir die Arbeit große Freude. Die haben immer Lust auf Neues und sind fasziniert davon, was auf dem Cello alles möglich ist. Mein Klavierpartner Julian Riem und ich versuchen bei unseren Kinderdorf-Besuchen immer, gemeinsam kurze Stücke einzustudieren, und wenn man merkt, dass es bei den Kindern klick macht und ihren Stolz darüber sieht, ist das einfach ein Glücksgefühl. Da bekommt man so viel mehr zurück als man gegeben hat.
Lange hat Sie ein Cello von Jean-Baptiste Vuillaume begleitet. Seit Oktober spielen Sie als weltweit einzige Cellistin ein Bergonzi-Instrument von 1740.
Gromes: Ja, das ist ein unglaubliches Gefühl, vor allem, weil ich davor so viele andere Celli probiert habe und jetzt weiß, wie besonders dieses Bergonzi tatsächlich ist. Dank eines großzügigen Mäzens hatte ich die Möglichkeit, mich auf die Suche nach einem alten italienischen Instrument zu begeben – allein das war schon überwältigend. Ich habe bei den wichtigsten Instrumentenhändlern die größten Namen ausprobiert, aber nichts wollte so richtig passen. Dann hat mich jemand gefragt, ob ich nicht das Bergonzi probieren möchte. Ich hatte Bergonzi gar nicht auf dem Schirm, weil er hauptsächlich Geigen gebaut hat. Aber schon nach dem ersten Ton war ich wie gefesselt und wusste: Das ist es! Das Cello ist wunderbar ausgeglichen und edel und hat von der tiefsten bis zur höchsten Lage eine unglaubliche Strahlkraft und Wärme.
Also haben Sie sich schon gut aneinander gewöhnt?
Gromes: Tatsächlich entdecke ich jeden Tag noch etwas Neues, weil es sich doch anders spielt als ein Vuillaume. Ich habe in der kurzen Zeit schon einige große Cellokonzerte mit dem Instrument spielen dürfen, und es war immer toll, weil ich mich komplett darauf verlassen kann. Und wenn ich mehr gebe, kommt da auch mehr. Salopp gesagt: Das Cello hat mehr PS.