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Interview Patricia Kopatchinskaja

„Ich brauche Neue Musik wie die Luft zum Atmen“

Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja verweigert sich sinnloser Schönheit

vonChristian Schmidt,

Wird Patricia Kopatchinskaja nach ihrer Heimat gefragt, ist die Antwort nicht leicht. Denn die 1977 im moldawischen Chișinău geborene Geigerin hat polnisch-griechisch-jüdische Wurzeln, sie hat in Wien studiert und wohnt in Bern. Daher sagt sie gern, dass sie sich dort zu Hause fühle, wo sie mit den Kollegen, die sie schätzt, die Musik machen kann, die sie will. Die ist nicht selten sperrig, Kopatchinskaja pflegt die Moderne wie kaum eine andere Solistin ihrer Generation. Die Tochter professioneller Musiker will niemandem gefallen. Barfuß aufzutreten ist so keine Marketingpose, sondern echte Entrückung. Aber ihr raues, nicht selten aufgesplissenes Spiel ist selbst schon zum Markenzeichen geworden. Kopatchinskaja zieht hässliche, provokante Töne dem windschnittig-abgeschliffenen Schönen vor, dem „Wiener Schnitzel, das das Publikum immer wieder essen will“.

Stellen Sie sich vor, Sie fahren U-Bahn. In der Unterführung musiziert ein Folkloreensemble mit einem Hackbrettspieler. Bleiben Sie stehen?

Selbstverständlich, dann muss ich immer an meinen Vater denken, zuletzt vorgestern beim Joggen im Wiener Volksgarten.

Es ist nun 25 Jahre her, dass Ihre Familie mit Ihnen aus der damaligen moldauischen SSR nach Wien ausgewandert ist. Sie waren da gerade zwölf. Welche Erinnerungen verbinden Sie damit?

Das war einerseits eine schwierige Emigrantenzeit mit Unsicherheit und Not. Andererseits der Beginn einer großartigen Entdeckungsreise in die Neue Musik, beginnend mit der Zweiten Wiener Schule und weiter mit dem Kompositionsstudium. In der Straßenbahn schrieb ich täglich eine Motette im Palestrina-Stil und ein eigenes Stücklein. Als Geigerin konnte ich in jeder Kirche gut mit Muggen verdienen.

Was wäre aus Ihnen geworden, wenn sich dieser Zufall nicht ergeben hätte?

Dann würde ich wahrscheinlich auf einem moldawischen Markt Gemüse verkaufen.

Woran denken Sie, wenn Sie sich Ihre Heimat vorstellen?

Mit meiner Biographie ist man nirgends richtig zu Hause, mein Zuhause ist die Musik.

Aber wo fühlen Sie sich angekommen?

Im Gartenliegestuhl, beim Pingpong oder mit meiner Tochter im Naturhistorischen Museum.

Darf man als international agierender Musiker ein politischer Mensch sein?

Irgendein Grieche hat gesagt, der Mensch sei ein „Zoon politikon“, ein politisches Lebewesen. Selbstverständlich ist jeder Mensch – Musiker oder nicht – aufgerufen, politisch Stellung zu beziehen.

Wie beurteilen Sie die Situation in der Ukraine?

Die Leitlinie in solchen Fragen kann nur echte politische Selbstbestimmung sein. Die Schweiz zeigt seit Jahrhunderten, wie man solche Fragen per Volksabstimmung löst. Dazu gehört aber eine Kultur der Demokratie. Moldawien grenzt an die Ukraine und hat mit ihr eine gemeinsame Geschichte, daher geht mir das Ganze sehr nahe.

Kann die Musik helfen, Frieden zu stiften?

Das ist zu hoffen, Yehudi Menuhin und Daniel Barenboim sind beste Beispiele.

Verkünden Sie auch eine Botschaft mit den Mitteln der Musik?

Oh nein. Ich bin auf der Suche – wie ein Kind, das die Welt entdeckt. Die Seele eines Werkes will ich so erzählen, dass man es heute noch versteht und staunt. Die Interpretation bleibt ungenügend, wenn man nur alles richtig macht. Es geht um Fantasie, um Verrücktheit. Mich interessieren andere Welten, das Unaussprechliche, Mystik, Poesie, die Suche nach Wahrheit und Freiheit.

Sie betonen oft die Notwendigkeit „hässlicher Musik“. Wozu?

Es gibt natürlich Wohlfühlmusik in allen Varianten – von der Salonmusik über Schlager und dieses Kaufhausgedudel bis zur gesüßten Klassik. Aber Wahrheit in der Musik hat manchmal schroff zu sein, schon bei Beethoven und erst recht bei einer Galina Ustwolskaja. In ihr lässt sich die ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts hören, die ja auch nicht immer nur schön war.

Finden Sie auch, dass der Werkekanon öffentlicher Konzerte immer kleiner wird?

Wenn Veranstalter wollen, können sie das Spektrum auch erweitern, es gibt da einige Beispiele. Der große Erfolg solcher Repertoireweitungen lässt hoffen, dass auch andere Veranstalter nachziehen.

Lehnen Sie Programme manchmal ab, weil Sie glauben, zu einem Stück nichts Neues mehr beitragen zu können?

Das kommt tatsächlich vor.

Dafür wagen Sie zum Beispiel eine Ersteinspielung von Werken des Armeniers Tigran Mansurian. Es gibt ja genug Zeitgenossen, die einfach negiert werden.

Die Realisierung der neuen CD mit seinen Werken war mir seit langem ein Bedürfnis. Seine Musik ist rein und spirituell, jeder Ton kommt aus einer tiefen menschlichen Herzlichkeit, Schönheit und Einfachheit, aber auch Verzweiflung, die uns in der heutigen Musik nie mehr so begegnet.

Wofür wird zeitgenössische Musik gebraucht?

Gegenfrage: Wofür hat man Vivaldi und Mozart gebraucht? Und was gehen sie uns heute an? Ich jedenfalls brauche die Neue Musik, wie ich täglich neue Luft zum Atmen brauche.

Hat sie noch eine gesellschaftliche oder politische Relevanz?

In allen bekannten Kulturen gehörte Musik dazu, und das seit Zehntausenden von Jahren. Das wird auch in den kommenden Jahrtausenden so bleiben. Die Frage ist nur, welche Musik relevant bleibt. Es ist meine Lebensaufgabe, das herauszufinden – zusammen mit dem Publikum.

Müssen dessen Ohren für das Neue gereinigt werden?

Das würde für jede Musik nicht schaden. Die menschliche Wahrnehmung ist kontextabhängig. Man kann Haydn retrospektiv hören und hört nur den alten Papa. Oder man kann ihn im Zusammenhang mit Giacinto Scelsi oder einem anderen Neuerer hören, und dann wird deutlich, wie experimentierfreudig und gewagt der alte Papa komponiert hat.

Sie haben selbst Komposition studiert. Haben Sie manchmal den Wunsch, etwas besser ausdrücken zu können, würden Sie selbst die Musik schreiben?

Wenn Sie selber kochen, können Sie die Künste eines Meisterkoches viel besser würdigen. Wer selber schreibt, kann fremde Werke besser begreifen. Deshalb sollte jeder Musiker auch komponieren, selbst wenn seine Produkte nicht bedeutend sind. Darüber hinaus habe ich manchmal das Bedürfnis, etwas Eigenes zu sagen, und dann komponiere ich auch.

Aber es verschwindet dann alles im Schrank?

Keineswegs! Mein Klaviertrio haben wir vor einigen Jahren im Pariser Louvre, mein Violinkonzert erst neulich im Paul-Klee-Zentrum in Bern uraufgeführt.

Im Konzert scheinen Sie über Ihre Interpretationen recht spontan zu entscheiden. Geht das gut? 

Nein, nicht immer! Ist aber umso spannender.

Wenn Ihnen Risiko wichtiger als Perfektion ist, unterscheidet Sie genau das von anderen Geigerinnen?

Studioaufnahmen haben das naive Publikum dazu verführt, Perfektion auch im Konzert zu erwarten. Das hat zu einer Erstarrung des Konzertbetriebes geführt. Früher war es üblich zu improvisieren. Wenn man nichts riskiert, kann man jedes Mal perfekt und gleich spielen – aber das haben ja viele Dirigenten und Orchester gern angesichts der wenigen Proben, die man zur Verfügung hat.

Also ist das nicht Ihr Ding? 

Nein, definitiv nicht.

Fühlen Sie sich damit noch als Exotin?

Inzwischen gibt es eine neue Strömung, die das Spontane und Spielerische in der Musik wiederentdeckt.

Macht denn das professionelle Künstlersein glücklich?

Die glücklichsten Momente sind die, wenn eine Aufführung eines Werkes, das mir am Herzen liegt, wirklich gelingt, und zwar mit Musikern, mit denen ich mich wirklich verstehe. Dafür lebt man. Aber das Dasein als reisender Musiker hat auch Schattenseiten, mit Stress, Einsamkeit, Getrenntsein von der Familie, für eine Frau eine besonders vertrackte Bürde.

Woher nehmen Sie dann bloß all diese Fröhlichkeit?

Alles hat man Gott zu verdanken.

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