Beim Schleswig-Holstein Musik Festival steht in diesem Jahr Omer Meir Wellber im Zentrum des Programms. Vierzehn Konzerte wird er geben, und das nicht nur als Dirigent, sondern auch als Cembalist, Pianist, Rezitator – und Akkordeonist.
„Ein Gentleman ist einer, der Akkordeon spielen kann, es aber nicht tut“, sagt Tom Waits. Warum hat das Instrument so einen schlechten Ruf?
Omer Meir Wellber: Das hängt immer davon ab, wo man steht. Folklore hat für mich nichts Abwertendes. Mahler, Brahms, aber auch Mozart haben mit Folklore gespielt.
Sie erlernten das Instrument in Israel, in Ihrer Heimatstadt Be’er Shevah. Dort gibt es eine große Akkordeon-Tradition.
Wellber: Das hat zum einem mit meiner Generation zu tun. Wir hatten viele Emigranten aus vielen Ländern, aber besonders aus Russland, die alle Akkordeon spielten. Wir hatten sogar als Kinder ein Akkordeon-Orchester, haben Beethovens „Eroica“ gespielt und das Mendelssohn-Violinkonzert. Zum anderen waren da die Vierziger- und Fünfzigerjahre mit dem jungen Zionismus ganz zu Beginn der Gründung des Staates Israel. Das Akkordeon hat damals eine große Rolle gespielt, weil man es beim gemeinsamen Singen auf dem Berg oder in der Wüste als Begleitinstrument mitnehmen konnte.
Das Akkordeon bleibt Ihre große Liebe. Eines haben Sie in Palermo stehen, eines in Tel Aviv, eines in Dresden …
Wellber: … das Akkordeon von Palermo ist jetzt in Mailand, wo ich gerade bin.
„Die Angst, das Risiko und die Liebe“, so lautet der Titel Ihres schönen ersten Buches über die Arbeit mit Mozart. Von Ihrer ersten Liebe haben wir gerade gesprochen …
Wellber: … mit Liebe ist nicht nur das Akkordeon oder die Oper gemeint. Die Liebe ist der Antrieb für alles, was ich mache.
Als Kind fuhren Sie mit dem Bus eine Stunde durch die Wüste in das Kibbuz, wo Ihr Kompositionslehrer lebte.
Wellber: Ohne Liebe und Leidenschaft für all das wäre es nie gegangen. Die Kehrseite der Liebe ist für mich nicht der Hass – sondern Gleichgültigkeit.
Eine weitere Ihrer Lieben ist das Schreiben. Gibt es da Parallelen zum Musizieren?
Wellber: Ja und nein. Das Hauptelement beim Musizieren ist das gemeinsame Atmen und Denken. Doch der Schriftsteller ist allein und hat eine andere Perspektive. Die Energie muss der Schreibende aus sich selbst herausbringen, der Musizierende aber bekommt sie von der Gruppe und umgekehrt. Wichtig ist für mich der Weg. Wo komme ich her, wohin gehe ich oder möchte ich hin, als Künstler wie als Schriftsteller.
Über Ihr Buch „Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner“ schrieb die Welt: „Die Lebenskurvenbahn des Chaim Birkner dient als Cantus firmus für den Roman. Die Struktur ist flüssig, musikalisch.“
Wellber: Dabei war das eigentlich gar nicht so geplant! Ich suchte nach einem Sujet für ein Buch, das unterschiedliche emotionale und zeitliche Ebenen hat, ohne mich für eine Ebene entscheiden zu müssen. Da wir aber ein Buch nur von Anfang bis Ende lesen können, ist eine Richtung, eine Chronologie bereits vorgegeben. In der Musik hat man da sehr viel mehr Freiheit. Wenn ich etwa ein Werk von Mozart, das dieser vor über zweihundert Jahren schrieb, immer wieder aufführe, erzähle ich es auch immer wieder neu und kann gleichzeitig auf einer emotionalen Ebene verharren, die Zeit sozusagen stillstehen lassen. Diese Idee wollte ich auf ein Buch übertragen, die Zeit sozusagen ausschalten und nur die Emotion für sich stehen lassen, ohne das Jetzt, ohne das Gestern, ohne das Morgen. Die Emotionen, die Erinnerungen sollen die Handlung vorantreiben und nicht die reale objektive Zeit. Das bringt allerdings Widersprüche mit sich, denn jeder erinnert sich anders.
Wie meinen Sie das?
Wellber: Bei der Dokumentation mit einigen Holocaust-Überlebenden aus der entfernteren Familie wurden vier Schwestern porträtiert, die in Auschwitz waren. Auf die Frage, ob sie an der Rampe, wo die Selektion stattfand, nach rechts oder nach links gehen mussten, haben sie unterschiedliche Angaben gemacht. Ein so existentielles Ereignis im Leben, und jede sagt etwas anderes! Doch alle hatten und haben Recht. Die Wahrheit ist eben nicht rechts oder links, sondern der Umstand, die Emotion, dass du da warst, da sein musstest. Es gibt viele Wahrheiten.
Wie ist das mit der „Angst“, dem zweiten Begriff aus Ihrem Mozart-Buch?
Wellber: Mit Angst meinte ich Ehrfurcht. Ehrfurcht vor dem Werk Mozarts, vor jedem Takt. Das Musizieren ist für mich nicht unbedingt eine Frage zwischen lauter und leiser, langsamer oder schneller, sondern zwischen Leben und Tod.
Be’er Scheva, die Wüstenmetropole, in der Sie aufwuchsen, ist vom Gazastreifen fünfzig Kilometer entfernt. Immer wieder feuerten Terroristen Raketen auf die Stadt ab. Gewöhnt man sich daran?
Wellber: Als Jude kommt es eigentlich nicht auf diese fünfzig Kilometer an. Als Jude lebt man seit 3.000 Jahren in dem Bewusstsein, dass das Leben auch sehr kurz sein kann, weshalb man etwas Besonderes daraus machen muss – egal ob in New York, in Palermo …
… oder in der Wüste. Hatten Sie je Angst davor?
Wellber: Es heißt immer: Dort, wo manche Menschen nichts sehen, ist Wüste. Doch wir, die in der Wüste aufgewachsen sind, sehen dort Potential und Leben. Ich bin sehr glücklich über diese Perspektive.
Nun zum letzten Begriff: „Risiko“. Welches war das größte Risiko, das Sie je eingingen?
Wellber: Eigentlich gehe ich jeden Tag ein Risiko ein. Beim Dirigieren, bei meinen Projekten wie der Opernvision „Il crepuscolo dei sogni“ aus Palermo, in der ich versuchte, unsere Gefühle während der Pandemie einzufangen, oder mit der Techno-Musik inmitten einer Verdi Oper. Manche Risiken werden einem gleich bewusst, andere nicht. In meinem Leben hat das Risiko mit meinem Drang zur Freiheit zu tun. Wenn ich mit dem Orchester eine Sinfonie einstudiere, lasse ich viele Abschnitte „frei“. In der Probe machen wir nur Grammatik und Syntax. Aber der ganze Satz, die „richtige Literatur“, kommt erst im Konzert zum Vorschein, und das klingt immer wieder etwas anders. Es gibt Dirigenten, die proben bis hin zu einer endgültigen Fassung, die sie dann im Konzert immer wieder vortragen.
Es gibt also unterschiedliche Wahrheiten?
Wellber: Ja. Für mich gibt es keine endgültige Wahrheit. Manchmal funktioniert meine Philosophie gut, manchmal nicht so gut. Manche Orchester brauchen die absolute Klarheit, andere nicht. Manche Orchester wünschen sich, dass man liefert, andere lassen einem Freiheit. Das hängt auch damit zusammen, wie lange man sich kennt. Es hat auch etwas mit Vertrauen zu tun. Dennoch: Etwas Chaos tut immer gut.
Als Jugendlicher verdienten Sie Ihr Geld als Zauberer. Welcher war damals Ihr bester Trick?
Wellber: Ich habe immer gerne mit Händen und Karten gearbeitet. Ich fand es großartig, wenn man vor den Augen des Publikums Dinge verschwinden und wieder erscheinen lassen konnte, ohne dass dieses mitbekam, wie es funktionierte.
Eine gute Basis für den Beruf des Dirigenten?
Wellber: In gewisser Hinsicht, ja. Wie ein Zauberer zieht auch der Dirigent eine Art Show ab, auch der strenge und trockene und stets auf Objektivität beharrende Pierre Boulez tat dies. Extrem wichtig für alle ist das Timing: egal ob im Konzert, auf Probe oder auf der Party.
Vom Barock bis hin zum Tango, von Klassik bis hin zum Klezmer und zu arabischer Folklore … Das alles werden Sie mit Ihren Freunden auf dem SHMF bieten. Da braucht es die Kunst des Zauberers.
Wellber: Für mich ist das Freiheit. Leonard Bernstein bleibt für mich das Vorbild. Manchmal geht’s gut, manchmal nicht so gut, aber die Kunst muss immer persönlich sein, muss immer mit Angst, Risiko und Liebe angegangen werden.