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Blickwinkel: Aviel Cahn über das neue Leitungsmodell der Deutschen Oper Berlin

„Die Deutsche Oper will nicht in der zweiten Reihe sitzen“

Team statt Pultstar: Aviel Cahn, designierter Intendant der Deutschen Oper Berlin, über die ungewöhnliche Entscheidung für ein musikalisches Leitungsteam.

vonJohann Buddecke,

Herr Cahn, zugegeben, die Nachricht, keinen GMD für die Deutsche Oper gefunden zu haben und stattdessen auf ein Team aus drei Dirigenten zu setzen, wirft viele Fragen auf. Warum haben Sie denn keine Nachfolge für Herrn Runnicles gefunden?

Aviel Cahn: Die Gründe sind vielfältig. Auf jeden Fall gibt es eine neue Zukunftsvision für das Haus von mir, die ich jetzt noch nicht im Detail darlege, sondern erst in der Pressekonferenz, wenn ich meine erste Spielzeit vorstellen werde. Dazu gibt es natürlich eine Tradition des Orchesters und Ideen meinerseits. Wir haben verschiedene Persönlichkeiten angesehen und auch Gespräche geführt. Letztlich ist es aber nicht zu einer Einigung auf eine bestimmte Kandidatin oder einen bestimmten Kandidaten gekommen. Ich muss auch sagen, dass es nicht sehr viel Zeit und Möglichkeiten gab, Leute einzuladen. Es war nicht möglich, mit gewissen Dirigentinnen und Dirigenten vertieft Bekanntschaft zu schließen. Am Ende ist das die Konklusion: Wenn man nicht hundertprozentig überzeugt ist, sollte man eine Ehe auch nicht unbedingt eingehen, nicht wahr?

Korrekt.

Cahn: Und das gilt für mich auch bei einem oder einer GMD. Eine Generalmusikdirektorin oder ein Generalmusikdirektor ist eine sehr wichtige Figur, wenn es die richtige Person ist. Wenn es aber nicht die richtige Person ist, ist es furchtbar für alle. Daher haben das Orchester und ich gemeinsam beschlossen, uns für diese Entscheidung lieber noch mehr Zeit zu geben und stattdessen erst einmal auf ein anderes Modell zu setzen.

Welche Anforderungen haben denn die potenziellen Nachfolger nicht erfüllt?

Cahn: Einerseits gibt es Leute, die mir gefallen hätten, die das Orchester aber nicht unbedingt in der Funktion sah. Andererseits gab es Kandidatinnen und Kandidaten, die im Gespräch abgewunken haben und aus unterschiedlichen Gründen nicht kommen wollten. Ein großes Problem ist tatsächlich, dass viele Dirigenten heutzutage nicht bereit sind, den nötigen Zeitaufwand für ein großes Repertoire-Opernhaus freizumachen, an dem eine größere Präsenz mit Wiederaufnahmen und Premieren gefragt ist. Es bleibt dann keine Zeit, gleichzeitig noch Chefdirigentin oder Chefdirigent bei anderen Orchestern zu sein. Bei jüngeren Dirigentinnen und Dirigenten sieht man, dass sie oft mehrere Posten innehaben. Viele wollen lieber gleichzeitig in Amerika, Asien, Deutschland und ganz Europa präsent sein, als sich langfristig der Knochenarbeit in einem Opernhaus zu widmen. Für ältere Dirigenten ist der Aufwand eines Repertoire-Hauses wiederum oft zu groß. Daraus entstand meine Idee der Diversifizierung: Vielleicht ist das GMD-Modell auch ein Auslaufmodell – einerseits aus hierarchischer Sicht, andererseits in Bezug darauf, wie das Business inzwischen funktioniert. Was wir jetzt vorstellen, ist ein interessantes Modell, um auszutesten, wie so etwas funktionieren kann.

Berlins Kultursenatorin Sarah Wedl-Wilson spricht von einem „bahnbrechenden Modell“. Was ist „bahnbrechend“ an einem Modell, das letztlich das Resultat eines gescheiterten Findungsprozesses ist?

Cahn: Ich würde eher sagen, es ist das Resultat einer Findungsarbeit, die zwar auf kein Resultat gestoßen ist – jedoch gleichzeitig gewisse Gedankengänge ausgelöst hat, die sehr interessant für Institutionen wie die Deutsche Oper sein können. Ich glaube, wenn man sich so sklavisch an die GMD-Idee hängt, hat das auch seine Tücken und Gefahren. Jetzt zu sagen: „Nein, wir machen es anders“, ist ein interessanter Ansatz, den wir dem Business geben.

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Nun haben Sie mit Maxime Pascal und Michele Spotti zwei Principal Guest Conductors und mit Titus Engel einen Conductor in Residence. Wie sollen drei Künstlerpersönlichkeiten, von denen Sie selbst in Ihrer Pressemitteilung sagen, dass sie unterschiedliche Ansätze verfolgen, das Profil eines Opernhauses schärfen?

Cahn: Die Deutsche Oper Berlin ist ein Haus, das dreißig bis vierzig Produktionen im Jahr anbietet. Selbst wenn wir mit einem oder einer GMD nun stark auf die Moderne setzen würden, würde das italienische Repertoire natürlich nicht gestrichen werden. Dirigentinnen und Dirigenten werden heute immer stärker in Schubladen gesteckt. Allrounder-Profile gibt es kaum noch. Aber eine Generalmusikdirektorin oder ein Generalmusikdirektor für die Deutsche Oper müsste theoretisch ein solcher Allrounder sein. So ist unsere Lösung eine innovative Idee. Wir haben mit Michele Spotti jemanden, der das italienische Repertoire abdeckt und dem Haus in diesem Bereich einen spezifischen Duktus gibt. Maxime Pascal, eine Figur in der Nachfolge von Pierre Boulez, wird mit allem, was das 20. Jahrhundert und die aktuelle Oper betrifft, ein deutliches Profil setzen. Die wichtigsten Produktionen im zeitgenössischen Bereich der Salzburger Festspiele und der Wiener Festwochen betreut er seit Jahren. Und wiederum Titus Engel ist gerade für ungewöhnliche Kreationen sehr gefragt. Es ist diese Diversität der Stile, die das Haus und das System verlangt.

Ist das nicht für das Orchester am Haus etwas viel verlangt, sich bei jeder Produktion auf andere Arbeitsweisen und Klangvorstellungen einzulassen?

Cahn: Wir müssen mit dem Orchester besprechen, wie wir das konkret angehen. Ich glaube, dass ein guter Gastdirigent in der Probenzeit für eine Produktion etwas Gutes formen kann. Außerdem sind Spotti und Pascal Vertreter einer ähnlich schlanken Klangtradition, die geschmeidiger und analytischer ist. Im Team der Dirigenten wird es natürlich auch einen Austausch geben. Mit dem Orchester müssen wir nun in kollektiverer Weise einen Modus Operandi entwickeln, statt der spezifischen Arbeitsweise eines einzelnen Pultstars ausgesetzt zu sein. Wo das hinführt, ist momentan offen. Es kann sein, dass sich nach zwei Jahren plötzlich eine GMD-Figur herauskristallisiert. Natürlich kann es auch sein, dass dieses Modell verlängert wird. Heute kann ich es nicht sagen.

Hätten Sie vielleicht lieber eine Frau auf der Position gehabt, die jetzt nicht zur Verfügung stand?

Cahn: Ich hätte mir sehr gewünscht, dass unter den jetzigen drei Persönlichkeiten eine Frau gewesen wäre. Oder dass wir die Möglichkeit gehabt hätten, eine Frau als GMD zu besetzen. In meinen ersten zwei Saisons werden jedoch einige Dirigentinnen kommen, und es kann durchaus sein, dass sich eine Möglichkeit ergibt, das Team zu ergänzen. Das wird sich zeigen. Das Dirigenten-Business ist heute sehr extrem. Viele jüngere Dirigentinnen, die wirklich gut sind, werden enorm gehypt. Gerade in Amerika, wo es Quoten gibt, nach denen Orchester 50 Prozent Frauen anstellen müssen, landet plötzlich jemand beim Boston Symphony Orchestra, der vielleicht karrieretechnisch noch gar nicht so weit ist. Dadurch sind viele Dirigentinnen wahnsinnig ausgelastet. Manche haben zudem wenig Opernerfahrung oder möchten aus anderen Gründen nicht an ein Opernhaus. Vielleicht kristallisiert sich die Entscheidung ja auf eine Frau heraus. Das würde mich persönlich sehr freuen.

Ist die Ernennung von Christian Thielemann als GMD der Staatsoper Unter den Linden ein Problem für Sie, in dem Sinne, dass es nun auch in Ihrem Haus einen ebenbürtigen Kandidaten braucht?

Cahn: Es ist ja nicht nur Thielemann in der Stadt. Man hat zum Beispiel auch noch Kirill Petrenko und Vladimir Jurowski. Berlin ist eine Stadt mit sehr profilierten Dirigenten. Natürlich will die Deutsche Oper nicht in der zweiten Reihe sitzen. Es ist richtig, dass man ein sehr interessantes Profil für die GMD-Rolle braucht. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum der Findungsprozess in Berlin schwieriger ist.

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