Berg: Violinkonzert

(UA Barcelona 1936)

Im März 1935 bestellte der Geiger Louis Krasner bei Alban Berg ein Violinkonzert.

Im April starb mit neunzehn Jahren Manon Gropius-Mahler an Kinderlähmung. Berg hatte das Kind aufwachsen sehen, deshalb widmete er sein zweisätziges Violinkonzert dem Andenken eines Engels. Mittels seiner sehr persönlich angewandten Zwölftontechnik gestaltete er Werden (erster Satz) und Vergehen (zweiter Satz) in unmittelbar ansprechender Weise.

In der Zwölftontechnik legt der Komponist eine Reihenfolge der zwölf Halbtöne fest. Diese Reihe wendet er horizontal – für Melodielinien – und vertikal – für Zusammenklänge – an. Dabei wird die Ur-Reihe rhythmisiert, transponiert, umgekehrt, gespiegelt usw. – Fantasie ist gefordert, der Bezug zur Ur-Reihe gewährleistet den Zusammenhang.

Bergs Ur-Reihe für sein Violinkonzert baut zunächst acht (große und kleine) Terzen aufeinander, sodass lauter Dreiklänge entstehen: g-Moll, D-Dur, a-Moll, E-Dur. Diese entsprechen der Stimmung der Geige g-d-a-e. Diesen Turm aus Terzen krönen vier Ganztöne, in denen schon der Anfang des Bachchorals (Es ist genug) enthalten ist, auf den sich das requiemhafte Violinkonzert zubewegt.

Zu Anfang des ersten Satzes Andante (Werden) bildet sich im Orchester ein feines Klangnetz, während die Geige leise einmal über die vier leeren Saiten hinauf- und hinabstreift, als wolle der Solist ihre Stimmung überprüfen. Dann erklingt die Ur-Reihe, erst in großer Ruhe aufsteigend, danach in Umkehrung – absteigend. Dabei wird die erste Variation vorbereitet. Aus den sich entwickelnden Variationen geht ein tänzerisch beschwingtes Andante hervor (Klarinetten über Pizzicato, Doppelgriffe der Geige). Dieses wandelt sich kurz vor Schluss unmerklich in eine Kärntner Volksweise, die man – wie eine ferne Kindheitserinnerung – nur bewegt wahrnimmt.

Der zweite Satz Allegro (Vergehen) beginnt mit einem sich aufbäumenden Zwölftonakkord von schmerzhafter Gewalt – wie die Erkenntnis tödlicher Krankheit. Dann beginnt der Tod in einer taumelnden Sarabande zu wachsen, mit heftigen Akkorden und ausladenden Gesten. Nach dem Höhepunkt dieses Totentanzes erklingt Adagio der Bachchoral, mit vier Klarinetten harmoniumartig registriert. Eine lange feierliche Entwicklung – wie eine Trauerrede – schließt sich an. Dann erklingt wieder der Bachchoral, diesmal zwölftönig harmonisiert – ein faszinierender Moment, in dem sich zweihundert Jahre Musikentwicklung spiegeln. Zum Schluss kehrt die Musik zu ihrem Anfang zurück: Mit dem über die vier leeren Saiten streifen wie aus der Ferne verklingt das Konzert.

(Mathias Husmann)