Der Stadtteil Neukölln ist gewöhnlich nicht als Hotspot der Stille bekannt. Dennoch hat Vanessa Porter hier in einer ruhigen Seitenstraße einen idealen Rückzugsort gefunden, wenn sie in Berlin auftritt oder probt. Eine befreundete Musikerin hat ihr das Domizil zur Verfügung gestellt. Beste Voraussetzungen für ein entspanntes Gespräch zwischen den anstrengenden Probezeiten.
Varèse: Ionisation
Mitglieder der New York Philharmonic, Pierre Boulez (Leitung). Sony 1990
Kenne ich, klar. „Ionisation“ von Varèse. Super! Ich finde es super präzise gespielt – und das ist gerade für dieses Stück enorm wichtig. Es ist ja an sich nicht schwer oder virtuos. Aber genau da lauert die Gefahr: dass die Spieler es sich zu einfach machen. Dass man eben auf die Triangel schlägt, wenn sie in der Partitur auftaucht, und dass man die Windmaschine dreht, wenn sie dran ist. Aber der Schlagzeuger oder die Schlagzeugerin hat hier wirklich erfasst, welchen Grad man drehen muss, damit sie nicht zu weit nach oben geht. Das ist hervorragend balanciert, kein Instrument sticht heraus. Die Snare hat natürlich den schwierigsten Part mit den Pianissimo-Wirbeln zu meistern. Ich schätze, dass es ein Ensemble aus Frankreich ist. Dort spielt man oft ein bisschen fragiler als bei uns. Es könnten Les Percussions de Strasbourg sein, oder das Ensemble intercontemporain. Nein? Aber die Richtung stimmt? Ah, Pierre Boulez. Diese Klangfarbe gemeinsam zu finden, das ist die Herausforderung. Ich glaube, da muss man ein bisschen Zeit investieren. Diesen Klassiker sollte man schon im Studium gespielt haben. Das sollte ich unbedingt mal mit meinen Studentinnen und Studenten machen.
Fink: Concertino für Vibrafon und Streicher – 3. Rondo Allegro
Peter Sadlo, Münchener Kammerorchester, Gilbert Varga (Leitung). Koch Schwann 1997
Offensichtlich ein Vibrafon-Concerto. Ich kenne es aber nicht. Am Anfang hat es fast barocke Züge, als wäre es eine Bearbeitung. Vielleicht ein amerikanischer Komponist, 1940er-Jahre? Nein? Ach, Siegried Fink, der ist bekannt, aber eher für seine pädagogische Literatur. Das ist einfach schöne Musik, nicht anstrengend für das Publikum. Kann man auf jeden Fall machen. Aber es ist nicht unbedingt das, was ich mir als erstes aussuchen würde. Was die Interpretation betrifft: Sehr präzise gespielt. Das muss ein Großer sein. Christoph Siezten, Alexej Gerassimez? Eine andere Generation? Ach, Peter Sadlo. Alexej war einer seiner Schüler. Mein klitzekleiner Einwand: Man hört den Motor am Vibrafon, der dauerhaft eingeschaltet ist. Das sorgt für Unruhe. Es liegt wahrscheinlich nicht am Spiel, darüber ist Peter Sadlo erhaben, sondern an der Komposition. Bei etwas härterem Anschlag knallt es halt ziemlich schnell und geht ins Glockenspielhafte.
Psathas: One Study One Summary – 1. Etude
Alexej Gerassimez. Genuin 2012
Das Stück steht bei Wettbewerben oft auf dem Programm. Ich glaube, Alexej hat es schon mal gespielt. Ja, Treffer? Sein Spiel ist unverkennbar: schnörkellos, akzentuiert, auf den Punkt. Er spielt ohne großes Drumherum. Alexej ist ja ein recht großer Mann, er spielt ins Instrument hinein. Der hat einfach Wumms in seinem Schlag! Hier ist es nicht die Aufnahme, die man hochgezogen hat, das ist Alexej pur. Gleichzeitig experimentiert er gerne mit Elektronik und Tapes. Auf diesem Gebiet tut sich seit einiger Zeit sehr viel. Alexej setzt das hier mit den pulsenden Beats geschickt ein. Als Perkussionist musst du heute kein Studioprofi sein, um mit Elektronik arbeiten zu können. Software wie beispielsweise Ableton unterstützt uns bei der Bearbeitung des Materials. Die Gefahr dabei ist leider, dass wir uns vom Instrument ein bisschen distanzieren und in Folge für Komponisten nur noch als Geräuschemacher gelten. Sound und Effekt statt Handwerk und Präzision. Diese Fallhöhe sollte einem immer bewusst sein.
Xenakis: Rebonds B
Simone Rubino. Genuin 2017
Kennt man, ist tatsächlich ein echter Hit in unserem Repertoire. Ich liebe es und habe es oft gespielt. Das ist groovy, das ist cool. Schwer zu sagen, wer das spielt, weil „Rebonds B“ relativ wenig Interpretationsspielraum lässt; der Takt geht einfach durch. Es ist straight durchgespielt, sehr präzise. Für mich klingen die Bongos, die mit den Sechszehnteln durchgehen, ein bisschen zu laut. Sie übertönen die Melodie in der linken Hand, die mit Congas, großer Trommel und Tomtom gespielt wird. Wichtig ist die Stimmung der Woodblocks, die gleich einsetzen. Es gibt verschiedene Ideen, wie die gepitcht sind, also ob man eher tiefere, wirklich ganz holzartige nimmt oder eher Polyblocks, die viel feiner klingen. Jetzt hört man die Blocks. Ja, das sind hohe Blocks. Wow, das ist super gespielt! Der Interpret kommt wahrscheinlich nicht aus der Münchner Schule, sondern aus Stuttgart, wo ich auch studiert habe, an der HMDK. Peter Sadlo, der München geprägt hat, war echt crazy, ein Macher, der auf Attacke setzte. Dagegen bevorzugt Marta Klimasara, die in Stuttgart unterrichtet, eine sehr weiche Spielart. Da darf es nie zu hart sein, immer schöne Bögen und Phrasen … Doch München? Dann hören wir Simone Rubino. Superschöner Klang. Bis auf die Bongos: Die finde ich, wie gesagt, ein bisschen penetrant.
Hindemith: Kammermusik Nr. 1 – 1. Sehr schnell und wild
Royal Concertgebouw Orchestra, Ricardo Chailly (Leitung). Decca 2003
Die Kammermusik Nr. 1 ist für Perkussionisten eines Orchesters obligat und wird auch bei Probespielen regelmäßig abgerufen. Ich habe mich ja relativ früh vom Gedanken verabschiedet, fest im Orchester zu spielen. Diese wenigen Takte zu üben, bei denen du dir keinen einzigen Fehler erlauben darfst, war eher ermüdend im Studium. Heute Tempo 60, am nächsten Tag Tempo 61, dann wieder zurück zu Tempo 60, um dann mal die 62 zu probieren. Dieses sportliche Abrufen ist etwas ganz anderes als das, was ich heute mache. Selbstverständlich versuche ich, möglichst richtig zu spielen, aber mein Repertoire – ob solo oder im Ensemble – erfordert eine andere mentale Leistung.
Porter: #5
Vanessa Porter. Bhakti Records 2022
Das bin ich. Die Idee zu meinem ersten Soloalbum „Cycle.Sound.Color.“ hatte ich 2020 im ersten Lockdown. Ich habe zehn abstrakte Gemälde meines Großvaters, der eigentlich sein Leben lang als Koch arbeitete, als Grundlage genommen. Da er seinen Bildern (wahrscheinlich bewusst) keinen Namen gab, habe ich es auch vermieden, meinen Stücken – und damit rückwirkend seinen Bildern – einen konkreten Titel zu verpassen. Ich habe die zehn Stücke einfach per Hashtag durchnummeriert. „#5“ ist musikalisch offensichtlich von Steve Reich inspiriert. Das Projekt erhielt eine Förderung, um Kunst im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Wir haben riesige Plakate mit den abstrakten Gemälden gedruckt und an Litfaßsäulen aufgehängt. Zu jedem Motiv gab es einen QR-Code, über den man dann meine Musik hören konnte. Das waren meine ersten wirklich eigenen Kompositionen. Davor habe ich im Studio eher an Soundinstallationen rumgetüftelt. Brausetabletten ins Glas geworfen und mit dem Mikro hin- und hergewedelt, Küchengeräte zweckentfremdet und solche Sachen (lacht). Die CD erschien 2022, ein Porträtfoto meines Großvaters ist auf der Innenseite abgebildet. Das ganze Projekt hat ihn sehr stolz gemacht.
Reich/Kato: New York Counterpoint
Kuniko Kato. Linn 2013
Das ist cool. Geht das die ganze Zeit so? Na klar, Steve Reich, das passt ja gut im Anschluss. Aber welches Stück ist das? Zumindest in dieser Version für Marimba kenne ich es nicht. Ich liebe Minimal Music, da könnte ich stundenlang zuhören. Aber hier wird viel mit Overdubs und Hall gearbeitet. Das spielt nur eine Person? Schade, dabei geht viel von der Natürlichkeit und Nuancierung verloren, die entstehen, wenn ein volles Ensemble das Stück interpretiert. Kuniko Kato kenne ich nicht, ehrlich gesagt. Es klingt ein bisschen mechanisch, je länger man zuhört. Die Sechszehntel oder Achtel, die da durchlaufen, sind mir zu hallig aufgenommen. Das klingt fast wie ein Synthesizer. Die Parts, in denen die Sechszehntel dann fehlen, sind dagegen fast romantisch gespielt. Ich finde, das passt nicht.
Gregorianischer Gesang, Communio: Pascha nostrum …
Martin Grubinger, Schola Cantorum Münsterschwarzach. DG 2010
Ein Männerchor. Wahnsinnig schön, das klingt sehr spirituell. Sofia Gubaidulina vielleicht? Oh, jetzt kommt die Perkussion. Super! Ich finde diese Mischung äußerst spannend, weil der Chor zunächst ein ganz anderes Bild eröffnet als das, was dann plötzlich mit den metallischen Schlagzeugklängen folgt. Das kann mitunter schiefgehen, aber in diesem Fall finde ich das richtig gut gemacht. Hervorragend. Wer spielt? Er hat vor einiger Zeit seinen Abschied verkündet? Martin Grubinger! Das überrascht mich ehrlich gesagt, weil ich ihn irgendwie in einer ganz anderen Schublade hatte. Darf ich mal das Cover sehen? Da sieht Martin noch voll jung aus. Das Foto verspricht aber etwas ganz anderes, als wir hören. Sieht viel zu poppig aus. Ich finde, dass hier ein echt spannendes, genreübergreifendes Projekt realisiert wurde.
Gubaidulina: Glorious Percussion
Luzerner Sinfonieorchester, Jonathan Nott (Leitung). BIS 2011
Wow, das klingt mächtig mit den tiefen Bläsern. Diese Naturholzklänge erinnern ein bisschen an John Cage. Nicht? Der Name der Komponistin fiel eben bereits? Rebecca Saunders? Nein, wen habe ich denn genannt? Dann ist es Sofia Gubaidulina. Eine inspirierende, eindrucksvolle Frau, die leider vor kurzem verstorben ist. Ich habe im Februar 2023 bei einer „Late Night“ im Konzerthaus Dortmund ihre Sonate für Orgel und Schlagzeug gespielt, „Detto I“. Zum Konzert konnte sie leider nicht mehr kommen, da war sie schon sehr krank. Es ist äußerst interessant, wie sie den Klang verschiedener Perkussionsinstrumente einsetzt, sehr räumlich. Eine außergewöhnliche Komponistin.
