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Interview Uri Caine

„Musik hat die Möglichkeit, Menschen zu vereinen“

Mit einjähriger Corona-Verzögerung gratuliert Uri Caine im August mit zwei Konzerten in Bonn dem Jubilar Ludwig van Beethoven. Seit den neunziger Jahren ist der Jazz-Musiker aus Philadelphia bekannt für seine Klassik-Adaptionen, etwa von Bachs Goldberg- oder Beethovens Diabelli-Variationen. Im Interview spricht Caine über Reaktionen von Zuhörern und Kritikern, seine Grammy-Nominierung und Musik als politische Kraft.

vonJakob Buhre,

Mr. Caine, wenn Sie für ein Konzert die Wahl hätten zwischen einem Klassik- und einem Jazz-Publikum welches würden Sie wählen?

Uri Caine: Das wäre eine schwierige Entscheidung. Denn ich muss sagen, dass ich Konzerte vor Klassik-Publikum erlebt habe, wo es den Anschein hatte, dass die Zuhörer kaum reagieren, starr und reglos dasitzen – doch beim Applaus stellte sich raus, dass es ihnen sehr gefallen hat und sie viele Zugaben wollten. Auf der anderen Seite gibt es manchmal so einen ritualisierten Enthusiasmus, etwa wenn in einem Jazz-Konzert nach jedem Solo geklatscht wird. Klassische Musiker würde das sehr irritieren, wenn im Klavierkonzert am Ende einer Kadenz applaudiert würde. Also, ich möchte das Publikum gar nicht beurteilen, sondern mir gefällt die Energie der verschiedenen Zuhörerschaften.

Ob leger im Jazz-Club oder im feinen Zwirn in der Philharmonie macht für Sie also keinen Unterschied?

Caine: Sie nehmen vermutlich an, dass ein informelles Setting leichter ist, aber das macht das Musizieren nicht einfacher. Für mich als Musiker bleibt es die gleiche Herausforderung. Das Publikum kann einem natürlich auch viel Kopfzerbrechen bereiten. Es gab Konzerte, wo ich mir sicher war, dass ich schlecht gespielt habe, dabei hat es den Leuten gut gefallen. In Deutschland ist es auch mal vorgekommen, dass sich eine kleine Gruppe von Zuhörern zum gemeinsamen Buh-Rufen verabredet hat. Aber dann sind andere im Publikum aufgestanden und haben erwidert: Nein, diese Musik ist großartig.

Bei welchem Stück geschah das?

Caine: Es war eines der Konzerte, wo wir mit meinem Ensemble ein Klassik-Stück arrangiert haben. Wobei es auch immer wieder vorkam, dass Menschen im Saal saßen, die annahmen, sie würden jetzt die Goldberg-Variationen im Original hören. Die haben unsere Darbietung direkt abgelehnt, was dann natürlich sehr unglücklich ist.

Sie erwähnten einmal in einem Interview, dass frühere Jazz-Kollegen die Nase rümpften, als Sie anfingen, sich der Klassik zu widmen …

Caine: Das gab es, war für mich aber nie ein Problem. Die allermeisten Musiker vertreten ja eher die Einstellung: Tu das, was du für richtig hältst. Und wenn es doch mal Puristen gibt, sollte man sich davon nicht zu sehr beeindrucken lassen, deren Auffassung sollte nicht herabmindern, was du versuchst, musikalisch auszuarbeiten. Es ist ein sehr aufregender Prozess, mit einem Ensemble Stücke musikalisch zu erforschen, in einer festen Struktur, aber dank der Improvisation jeden Abend anders.

Anne-Sophie Mutter sagte einmal über Crossover-Projekte: „Warum sollte man die großen alten Meister in eine andere Form bringen, für die sie nicht geschaffen wurden? Man würde doch ein Selbstportrait von van Gogh auch nicht mit „Hello Kitty“-Ohren versehen, damit das Bild zugänglicher wird.“

Caine: Ich verstehe, was sie meint und respektiere ihre Meinung. Wobei ich nicht weiß, ob das mit den „Hello Kitty“-Ohren eine zutreffende Beschreibung ist. Jacques Loussier wäre da ein gutes Gegenbeispiel, außerdem gibt es das Improvisieren über klassische Musik schon sehr lange, auch Duke Ellington hat das schon gemacht. Warum ein Werk in eine andere Form bringen? – Dazu habe ich emotional eine andere Haltung als Frau Mutter. Ich kenne auch die scharfen Urteile von Kritikern. Ich akzeptiere die, gebe allerdings zu bedenken, dass manche Künstler davon hart getroffen werden. Musikjournalisten realisieren oft nicht, wie viel Arbeit in einer Aufführung steckt und wie schlimm es sich für Musiker anfühlen kann, wenn am nächsten Tag in der Zeitung steht: „Es war das schlechteste Konzert, das ich je gehört habe“.

Ist Ihnen das schon passiert?

Caine: Ja, nach einem Auftritt in Florida. Ich war gerade zu Besuch bei meinen Eltern, und in der Zeitung stand über meine Aufführung genau dieser Satz. Da war meine Mutter sehr besorgt um mich, aber ich habe ihr gesagt: Mach dir nichts draus, mich kümmert das nicht. Konstruktive Kritik finde ich dagegen wunderbar! Ich habe mir schon oft ausgemalt, was für ein Albtraum es wäre, ein Restaurant zu haben, wo du deine Gäste permanent zufriedenstellen musst. Als Musiker hingegen kannst du sagen: Hier ist mein Programm, akzeptiert es, mögt es oder mögt es nicht.

Haben Sie als Zuhörer schon mal ein Konzert verlassen, weil es Ihnen nicht gefiel?

Caine: Da fällt mir spontan das Konzert zur Grammy-Verleihung ein, das war ein großer Zirkus. Natürlich sagt dir vorher jeder: „Geh dort hin, dort sind die richtigen Stars!“ Also war ich dort mit meiner Frau und anderen Jazz-Musikern, die Veranstaltung ist sehr lang und beginnt schon am Nachmittag. Aber in einem Moment wurde es so unglaublich laut und unangenehm, dass wir alle aufgestanden und gegangen sind.

Sie wurden 2008 für den Grammy nominiert. Bedeutet Ihnen das etwas oder hat Sie die Nominierung nicht gekümmert?

Caine: Ich würde niemals sagen, dass mich das nicht kümmert, natürlich ist das eine schöne Sache. Allerdings habe ich überhaupt keine Ahnung von wem und warum ich nominiert wurde, da steckt bei den Grammys ja auch eine gewisse Politik dahinter.

Viele Ihrer CDs sind bei einem Label aus Deutschland erschienen. Wie kam es zu dieser Verbindung?

Caine: Das kam durch den Saxofonisten Gary Thomas zustande, mit dem ich damals spielte. Er hat mich mit Stefan Winter bekannt gemacht hat, der das Label GMT gegründet hatte, aus dem später Winter & Winter wurde. Stefan hat mich sehr unterstützt und tut es bis heute, er hat mich so viele verschiedene Dinge machen lassen, was ich sehr schätze. Durch diese Veröffentlichungen wurde es mir auch möglich, mit bestimmten Programmen auf Tour zu gehen, wie etwa mit den Goldberg-Variationen oder dem Mahler-Projekt. So begann ich übrigens auch, auf Klassik-Festivals zu spielen – was für einige Musiker in meinem Ensemble ein Kulturschock war: Die Etikette, wie die Menschen mit uns sprachen, was sie erwarteten. Aber dann saßen im Publikum eben auch viele, die die Goldberg-Variationen oder Mahler sehr gut kannten und die unsere Version davon sehr genossen haben.

In Bonn befassen Sie sich dieses Jahr in zwei Konzerten mit Beethoven. Wie nähern Sie sich ihm an?

Caine: Nehmen wir als Beispiel Beethovens Neunte, über die wir in Bonn improvisieren werden. Natürlich musst du das Stück genau studieren und jede Note kennen, du musst es harmonisch verstehen. Dann kannst du bekannte Harmoniewendungen nehmen und sie durch Arrangement und Improvisation ausdehnen. Man gebraucht seine Fantasie, behält aber den Respekt vor dem Werk.

Was fügen Sie Beethoven hinzu?

Caine: Ehrlich gesagt schüchtert mich diese Frage etwas ein, denn man kann nichts zu Beethoven „hinzufügen“. Es gibt im Original die Passagen, wo sich der Verlauf entwickelt, wo er mit den Harmonien überraschende Wege einschlägt, und dann jene Momente, wo er abwartet und zögert, bevor er sozusagen den großen Schlag ausführt. Diese Momente versuchen wir durch die Improvisation zu intensivieren. Es geht nicht um die Frage, was wir dem Original hinzufügen können, sondern vielmehr ist es der Gedanke: Lass uns auf dieser Welle reiten und gucken, was passiert.

Könnten Sie eine Beethoven-Sonate oder Bachs Wohltemperiertes Klavier eigentlich auch im Original spielen?

Caine: Ja, aber natürlich nicht so wie jemand, der das seit dem sechsten Lebensjahr acht Stunden täglich geübt hat. Ich habe einmal in Deutschland ein Mozart-Klavierkonzert im Original gespielt. Das war für mich sehr viel harte Arbeit, und vor dem Konzert war ich ängstlich wie sonst nie zuvor. Am Ende war ich wohl ganz okay, ein paar kleine Fehler sind mir unterlaufen, doch danach habe ich beschlossen, das nicht wieder zu tun. Denn es gibt so viele andere Pianisten, die Mozart wundervoll spielen können, denen zolle ich Respekt und denen will ich nicht im Weg stehen.

In Ihrer umfangreichen Diskografie finden sich viele Genres. Würden Sie sagen, Sie sprechen verschiedene Musik-Sprachen, oder begreifen Sie es als eine Universalsprache?

Caine: Als Kind habe ich zuerst sehr viel klassische Musik gespielt. Mit zwölf bekam ich dann den Jazz-Pianisten Bernard Pfeiffer als Lehrer, der mir aber auch riet: Hör mit der Klassik nicht auf, sondern guck dir die Technik und die Harmonien genau an. Manchmal holte er Noten von Messiaen hervor und ließ mich die Akkorde analysieren. Was ich damit sagen will, ist, dass ich all die verschiedenen Musikstile immer durch das Klavier wahrgenommen habe, weil ich als Pianist teilgenommen habe: sei es im Zusammenspiel mit Chören, mit einer Funk-Band, mit Solisten, im Duo und so weiter.

Einer der ersten Komponisten, der Klassik und Jazz fusionierte, war George Gershwin. Ist er ein Vorbild für Sie?

Caine: Ich bin einfach ein fanatischer Musik-Student, ich bin sehr interessiert an vielen Aspekten von Musik und an diesem Mysterium, dass etwas so Abstraktes so viele Gefühle auslösen kann. Gershwin war dabei nicht meine Hauptinspiration. In Philadelphia fühlte ich mich vor allem zum Jazz hingezogen, ich hörte mir viel Miles Davis und John Coltrane an, der in Philadelphia lebte, befasste mich mit ihrem musikalischen Erbe und der Jazz-Szene, mit den Clubs. Später kam die Erfahrung hinzu, Schönberg zu hören, Strawinsky und Boulez, was meinen Horizont enorm erweiterte – und wo ich mir dachte: Man könnte versuchen, solche Musik zu improvisieren. Und schließlich war ich auch von dem beeinflusst, was in meiner Jugend im Radio lief: James Brown, Aretha Franklin. Meine Mutter liebte Aretha Franklin, sie hörte ihre Songs jeden Tag.

2019 haben Sie dem Bürgerrechtsaktivisten Octavius Catto ein Oratorium gewidmet, der sich für das Wahlrecht für Schwarze einsetzte, jedoch 1871 erschossen wurde und dessen Mörder nicht ins Gefängnis kam. Wie blicken Sie darauf im Jahr 2021, nachdem der Mörder von George Floyd zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde?

Caine: Rassismus in der Polizei ist in den USA leider ein altes Problem, das ich auch schon erlebt habe, als ich in Philadelphia aufwuchs. Sicher, die Tatsache, dass der Mörder von George Floyd verurteilt wurde, dass im Prozess sogar ein Polizist gegen ihn aussagte, zeigt, dass sich in den USA etwas verändert. Wobei ich mich trotzdem gefragt habe, warum er geringer bestraft wurde als viele andere Mörder in den USA.

Hatten Sie bei Ihrer „Passion of Octavius Catto“ eigentlich auch Bedenken, weil Sie sich als Weißer der Geschichte von Catto angenommen haben?

Caine: Nein. So eine Diskussion gab es auch nicht. Viel mehr war das Echo auf die Uraufführung sehr gut, weshalb wir später noch eine CD-Aufnahme davon gemacht haben, finanziert durch Crowdfunding.

Kann Musik heute eine politische Kraft sein, Ihrer Meinung nach?

Caine: Ich denke schon, vor allem weil sie Menschen zusammenbringen kann. Auf der Bühne zwischendurch zu sagen „ich hasse Trump“, das braucht niemand und würde ich auch nicht machen. Es ist auch nicht jedes Stück, dass mit politischem Hintergedanken geschrieben wurde, großartige Musik. Aber mir gefällt die Idee, dass Musik eine organisierende Kraft sein kann, sie hat die Möglichkeit, Menschen zu vereinen.

Barack Obama lud seinerzeit Jazz-Musiker zum Konzert ins Weiße Haus ein. Würden Sie eine Einladung dorthin annehmen?

Caine: Also, unter einem Präsidenten Trump hätte ich eine Einladung sicher ausgeschlagen. Wissen Sie, ich habe früher schon mal für Trump gearbeitet, während meiner Highschool-Zeit. Da hatte ich in Atlantic City einen Job in einem der drei Casinos, die Trump gehörten. Und Trump hat uns einfach nicht bezahlt. Es gab auch Geschichten, dass er von jugoslawischen Bauarbeitern, die das Casino gebaut hatten, die Pässe einbehalten hat. Die konnten dann nirgends hingehen und sie bekamen ebenfalls ihren Lohn nicht. Ich habe aber tatsächlich schon mal für einen US-Präsidenten gespielt, als ich noch ziemlich jung war: Das war bei Ronald Reagans „Inaugural Ball“. Dafür schäme ich mich jetzt fast ein bisschen (lacht).

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