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Interview Kristjan Järvi

Im Osten viel Neues

Kristjan Järvi über seine Arbeit mit dem MDR Sinfonieorchester, Interpretationsspielraum bei Steve Reich und Inspiration aus den USA

vonJakob Buhre,

Die Strecke vom Leipziger Hauptbahnhof zum Hochhaus des MDR ist kurz, und doch blickt man bereits in das strahlende Gesicht Kristjan Järvis, noch bevor man am Ziel angekommen ist: Dank einer Plakataktion ist der estnische Dirigent in der sächsischen Metropole äußerst präsent. Wobei das Pendeln zwischen den MDR-Konzerten, Verpflichtungen beim Gstaad Festival Orchestra und dem Baltic Youth Philharmonic, diversen internationalen Gastengagements und seiner Familie in Florida sichtlich an seinen Kräften zehrt. Beim Gespräch in seinem Büro wirkt der 41-Jährige erschöpft. „Wenn ich zwischen den Proben und Konzerten Zeit zum Schlafen finde, ist das schon gut“, sagt Järvi und lächelt.

 

Herr Järvi, wie haben Sie sich in Leipzig eingelebt?

Ich mag es hier sehr. Leipzig ist eine der coolsten Städte in Deutschland, da bin ich mir sicher. Die Leute sind nett, offen, und es herrscht eine energetische Atmosphäre. Es gibt viele Kreative, nicht nur in der Musik, auch in den Bereichen Kunst, Theater und Tanz.

Finden Sie denn auch die Zeit für die hiesige Kulturszene? 

Nein, ich habe fast nie Zeit für solche Dinge. Nirgends. Alles, was ich mache, ist proben und arbeiten.

Aber braucht man als Dirigent nicht auch gewisse Freiräume und Inspirationen?

In der Tat. Ich stelle im Moment auch fest, dass ich mir dafür mehr Zeit nehmen und meinen Terminplan reduzieren muss. Weil einfach die Zeit zum Nachdenken fehlt, zum Planen. Aber ich arbeite bereits daran, das zu ändern.

Im Saison-Programm des MDR Sinfonieorchester fällt auf, dass Sie in Leipzig fast nur Werke des 20. oder 21. Jahrhunderts aufführen.

Nein, das stimmt nicht ganz, warten Sie … oder doch, Sie haben Recht. Die Sinfonia Domestica von Strauss ist schon 20. Jahrhundert, dann hatten wir Mahlers 2. Sinfonie, Rachmaninow – es sind viele Komponisten des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts. Ich finde daran aber nichts falsch.

Steckt denn ein bestimmter Plan dahinter?

Die zeitgenössische Musik, die wir aufführen, ist Musik, die die Leute lieben, und es ist Musik, die ich auch lieben würde, wenn ich kein Musik-Liebhaber wäre. Ich wünsche mir, dass das Konzert für unser Publikum zu einem Ereignis wird, wo die Leute rauskommen und denken „Wow, warum war ich nicht schon öfter hier?“ Unser Publikum verändert sich gerade sehr, es verjüngt sich. Unsere Konzertserie „Reihe Eins“ zieht viele Leute an, die klassische Musik hören wollen, aber nicht die erwartbaren Komponisten wie Mozart oder Haydn.

 

Wie sehr hat sich die Kategorie „Komponist“ im 21. Jahrhundert erweitert?

 

Tatsächlich ist es eine Grauzone, was genau einen Komponisten heute ausmacht. Für mich ist es jeder, der kreativ mit Klang umgeht. Da gibt es diejenigen, die von der Hochschule kommen, die klassisch ausgebildet sind, harmonisch geschult. Aber auch jemand wie Jónsi, der Frontmann der isländischen Band Sigur Rós, ist in meinen Augen ein großer Komponist oder auch Sven Helbig. Und ich merke manchmal, dass ich bei denen, die sich aufgrund ihrer traditionellen Ausbildung als Komponist sehen, weniger Affinität zu ihrer Musik habe.

Haben Sie eine Affinität zum Werk des Avantgardisten Karlheinz Stockhausen?

Ich fühle keine Verbindung zu ihm. Für mich persönlich war er mehr ein Philosoph als ein Komponist. Ich schätze auch jemanden wie Pierre Boulez, würde aber seine Musik nie aufführen. Weil ich keine Verbindung zu ihm habe. Er ist eine unglaubliche Persönlichkeit, ich sage auch nicht, dass mir seine Musik nicht gefällt.

 

Sind Boulez und Stockhausen zu „schwierig“ für das Publikum?

Nein. Was ich Ihnen erkläre, hat nichts mit dem Publikum zu tun, sondern es geht darum, was ich genießen und mit Freude machen kann. Wenn das gegeben ist, kann ich es dem Publikum am besten vermitteln. Wenn ich aber fühle, dass ich ein Werk nur formell dirigiere, dann hat niemand was davon. Nicht das Publikum, nicht das Orchester und ich auch nicht.

 

Komponisten sollten nicht zu viel nachdenken, sondern aufschreiben, was sie fühlen, sagten Sie vor drei Jahren in einem concerti-Interview.

Ja, ich meine, hören Sie sich Schumann oder Mendelssohn an: Glauben Sie, die haben zu viel nachgedacht? – Sie haben aufgeschrieben, was sie fühlten. Wenn du das nicht tust, bist du nicht ehrlich zu dir und der Welt. Dann kalkulierst du alles, du wirst entweder versuchen, kontrovers zu sein oder geliebt zu werden. Wenn du bewusst so ein Ziel verfolgst, dann ist die Musik nicht der wahre Spiegel deiner Seele.

 

Finden Sie diese Seele bei Steve Reich, dem aktuellen MDR Composer in Residence?

Ja! Seine Musik berührt mich. Und er hat die Musiklandschaft buchstäblich verändert, in dem er eine ganze Bewegung geschaffen hat, die vorher nicht existierte. Er ist jemand, den man auch in Hip Hop-Clubs hört, einige Werke wurden von DJs geremixt. Weil seine Musik eine bestimmte harmonische und rhythmische Architektur hat, die attraktiv ist, auch für eine Generation, die 30, 40 Jahre jünger ist als er selbst.

 

Die Architektur seiner Musik ist sehr streng – wo hat man da Interpretationsspielraum?

 

Bei Steve Reich sind es die Exaktheit in der Phrasierung und der Groove, die einem die komplette Freiheit bringen. Ich meine diese Genauigkeit im Rhythmus, wie sie auch jeder große Schlagzeuger hat. Seine Musik hat aber auch die gleichen Schwierigkeiten wie eine Haydn-Sinfonie, wo es auch um Intonation, Artikulation und Phrasierung geht.

Amerika ist ein Schwerpunkt Ihrer Konzerte beim MDR. Sie selbst kamen als Achtjähriger in die USA. Wie hat Sie das Land geprägt?

 

Aus Europa kommend hatte ich in den USA die Möglichkeit, meinen Denkhorizont zu erweitern. In New York zu leben bedeutet ja im Prinzip, dass du die ganze Welt direkt vor deiner Haustür hast. Wenn mich jemand fragt, ob ich mich europäisch oder amerikanisch fühle, antworte ich immer: Nationalität estnisch, Mentalität amerikanisch. Denn Amerika hat mir diesen Impuls gegeben, nach Dingen zu streben, die außergewöhnlich sind. Anders zu sein, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Und wenn ich mir die Musikgeschichte anschaue: All jene, die wir heute verehren, von Bach bis Steve Reich oder John Adams – das sind Pioniere. Sie haben ihre eigene Stimme und sie sprechen sehr laut. Ich bin froh, diese Art von Selbstsicherheit bekommen zu haben.

Hierzulande kümmert sich vor allem die öffentliche Hand um die Kultur, in den USA wird sie privat finanziert. Was bringt Ihrer Meinung nach die interessantere Musik hervor?

Ich denke, in beiden Systemen wird die traditionelle Ausbildung geschätzt, wenngleich in den USA weniger als hier. In Deutschland kann man auch durchkommen, in dem man den rein akademischen Weg wählt. Daran ist nichts falsch. Nur kann es passieren, dass man dann nur noch die Anerkennung von der Umgebung sucht, die einen kreiert hat. Das heißt, man bleibt im akademischen Kontext. Doch das ist nicht die beste Grundlage, um ein Trendsetter zu werden, ein musikalischer Unternehmer.

 

Steve Reich und Philip Glass gründeten anfangs ihre eigenen Ensembles, damit ihre Musik aufgeführt wird …

Ja, sie mussten kämpfen. Sie haben den riskanteren Weg gewählt.

 

Wäre also in Europa aus Ihnen nicht der Dirigent geworden, der Sie heute sind?

Wahrscheinlich nicht. Ich habe in New York ebenfalls mein eigenes Ensemble gegründet (das Absolute Ensemble), das immer noch meine Band ist. Wir können damit alles machen, das ist fantastisch! Dort lernen wir, was gemeinsames Musizieren bedeutet. Man respektiert sich und das auch über Genregrenzen hinweg.

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