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Interview Isabelle van Keulen

„Ich bin eher ein Mensch der leisen Töne“

Die umtriebige Geigerin und Bratschistin Isabelle van Keulen ist in diesem Winter mit Werken von Vivaldi bis Vasks zu erleben.

vonJan-Hendrik Maier,

Isabelle van Keulen spielt sowohl Violine als auch Viola auf Weltklasseniveau. Im morgendlichen Telefon­interview plaudert die gebürtige Niederländerin über ­geigerische Höchstleistungen, die Verantwortung von Künstlern für die Musik und die Freiheit bei Beethoven und Piazzolla.

Welches Instrument können Sie eher zur Seite legen: Geige oder Bratsche?

Isabelle van Keulen: Keins! Wenn ich Geige spiele, ist das das Allerschönste. Wenn ich die Bratsche in die Hand nehme, freue ich mich über die schönen Zwischenstimmen und die Farben in der Mitte. Es ist eine Kreuzbefruchtung, leider geht nicht beides gleichzeitig.

Ihre Kollegin Tabea Zimmermann nennt die Bratsche ein „philosophisches Instrument“. Was charakterisiert die Viola für Sie?

Keulen: In der Mitte hat man, wie Tabea sagt, eine philosophische oder diplomatische Rolle. Man spielt nicht wortwörtlich die erste Geige, sondern ist die Füllung im Kuchen, die den Geschmack liefert. Ein Stück kann glänzen und zugleich eine bedachtsame, innere Stimme haben.

Und die Geige?

Keulen: Seit ich Lesen gelernt habe, ist sie meine Stimme. Ich liebe das Singende an ihr und all die wunderbaren Konzerte und Sonaten, die ich als reine Bratschistin arg vermissen würde. Mit drei Jahren wusste ich aber noch nicht, dass es überhaupt Bratschen gibt. Vielleicht hätte ich sonst zu ihr gegriffen.

Wie wählen Sie die Stücke für Ihre Konzerte und Aufnahmen aus?

Keulen: Bei Konzerten werde ich in der Regel für ein bestimmtes Repertoire angefragt, das erfordert Kompromissbereitschaft. Zugleich müssen Brahms und Beethoven immer wieder gespielt werden, weil es geniale Musik ist. Bei Aufnahmen folge ich mehr meinen Leidenschaften, fokussiere auf einen Punkt, etwa den kompletten Prokofjew, Strawinsky oder Beethoven, oder suche Marktlücken wie Grigory Frid.

Eine „Leseprobe“ in Frids Partituren hat Sie zu Tränen gerührt. Was geht von seiner Musik aus?

Keulen: Beim späteren Hören des ersten Albums mit Frids Doppelkonzert erkannte ich erst die innere Schönheit des Stücks. Während der Aufnahme seiner Violinwerke haben Oliver ­Triendl und ich dann auch die Bratschen-Stücke angespielt, dabei kamen uns die Tränen. Das passiert manchmal einfach. Das ist die Kraft der Musik, die wir als ausführende Künstler auf der Bühne vermitteln müssen. Mein Publikum muss nicht unbedingt wissen, warum ein Stück schön ist, sondern es empfinden und erzählt bekommen.

Zahlreiche Komponisten schrieben für Isabelle van Keulen Violinkonzerte
Zahlreiche Komponisten schrieben für Isabelle van Keulen Violinkonzerte

Spüren Sie eine besondere Verantwortung gegenüber Ihnen gewidmeten Kompositionen?

Keulen: Theo Loevendie hörte mir damals stundenlang beim Spielen in meinem Amsterdamer Studio zu. Meine Klangfarbe hatte er also im Kopf. Das freut mich, ist vielleicht aber auch Eitelkeit. Das Schöne ist die gemeinsame Arbeit mit Komponisten, wie ich sie etwa mit Pärt, Schnittke und Lutosławski erleben durfte, auch wenn sie nicht explizit für dich schreiben. Man hat stets die gleiche Verantwortung, ein Stück so gut wie möglich und gewissenhaft aufzuführen.

Mit Beethoven teilen Sie den Geburtstag. Verbindet das?

Keulen: Schon ein bisschen, bilde ich mir ein. Jedenfalls ist das keine schlechte Sache. (lacht) Ich habe viel über ihn gelesen und kann einige seiner Charakterzüge mehr als bei anderen Komponisten nachvollziehen: gegen die Gesellschaft zu sein, gegen alles zu sein, was geordnet ist. Er war ein Einzelgänger, der mit Notizbuch spazieren ging, das habe ich als Kind auch gemacht. In Beethovens Musik gibt es zudem viele Stellen, in denen man sich bereits in der Hochromantik wähnt. Seine Vielseitigkeit ist faszinierend.

Sie haben die Deutsche Kammerakademie Neuss (DKN) einmal als „saftiges Kammerorchester“ bezeichnet. Was verstehen Sie darunter?

Keulen: Für mich hat dieses Kammerorchester den idealen Klang. Anfangs war dieser noch etwas eckig und stur, mittlerweile strömt die Musik aus den Leuten heraus. Sie sind ungemein flexibel geworden. Ich bin eher ein Mensch der leisen als der lauten Töne. Wenn die DKN dann laut spielt, wirkt das nicht hart, sondern eben voll und saftig. Ob das allein meiner Arbeit geschuldet ist, weiß ich jedoch nicht.

Wie haben Sie das erste Zusammentreffen mit der DKN erlebt?

Keulen: Ich hatte vor dem Date 2017 keine Angst, aber Respekt: Beethovens erste Sinfonie und sein Violinkonzert ohne Dirigent, das ist geigerische Höchstleistung. Doch als Artist in Residence mussten wir uns gegenseitig ja testen. Diese Anspannung ist über die Jahre freundschaftlicher und inspirierender geworden. Ich fordere viel, bin aber nicht nervös. In manchen Programmen denke ich mir aber immer noch, oh je, warum habe ich mir das ausgedacht. Fazıl Says „Chamber Symphony“ ist etwas anderes als ein Mozart-Konzert mit Ronald Brautigam. Doch zu sehen, dass die Klangsprache letztlich in meinen Augen richtig ist, das ist ganz wunderbar.

Welche Akzente sind Ihnen als künstlerische Leiterin in Neuss wichtig?

Keulen: Wir haben einige Kompositionsaufträge in der Pipeline. Ansonsten versuche ich einen Mix aus Alt und Neu. Beethoven, Mozart, Haydn und Mendelssohn, gerne auch deren unbekanntere Werke, sollen ebenso weitergespielt werden wie Max Richters Vivaldi Recomposed. Meine Projekte werden stets geigenbetont sein. Irgendwann hat sich das erschöpft, aber so weit ist es noch nicht. Ich fühle mich in der Beziehung mit der DKN immer noch in einer zeitlichen Anfangsphase. Das liegt auch an den tollen Akademisten, die bei uns das kammermusikalische Spielen lernen, bevor sie gefühlt für die nächsten 45 Jahre in großen Orchestern verschwinden.

„Piazzolla und Tango zu spielen, geht emotional sehr tief und ist zugleich befreiend“, sagt Isabelle van Keulen
„Piazzolla und Tango zu spielen, geht emotional sehr tief und ist zugleich befreiend“, sagt Isabelle van Keulen

Ihr Ensemble fokussiert sich auf Tango und die Musik Astor Piazzollas. Was fasziniert Sie daran?

Keulen: Weiß ich nicht, das ist ein Bauchgefühl seit meiner Kindheit. Ich habe Piazzolla einmal live in Utrecht erlebt und mir viele Aufnahmen und Fernsehauftritte angehört. Ich bin ein echter Fan. Seine Musik hat einerseits strenge Regeln, andererseits eine unglaubliche Klang- und Rhythmusfreiheit für die Geige. Das erinnert an Beethovens Charakterzüge. Piazzolla und Tango zu spielen, geht emotional sehr tief und ist zugleich befreiend.

Tanzen Sie selbst Tango?

Keulen: Ich kann doch gar nicht tanzen! Ich kann alles mit den Händen, aber links und rechts, das ist in meinen Füßen nicht angekommen.

Sie sind in den Niederlanden geboren und haben Standbeine in London, Hannover und Luzern. Wo fühlen Sie sich zu Hause?

Keulen: Diese Frage habe ich mir oft selbst gestellt. Meine Wurzel ist das Haus südlich von London. Hier habe ich Ruhe, meinen Garten und Bücher. Das ist inspirierend, weil nichts anderes mehr muss. Mein Mann wohnt in Hannover, wir treffen uns meistens im wunderschönen Luzern. Mittlerweile fühlt sich alles relativ zu Hause an.

Woher nehmen Sie die Energie fürs Musizieren?

Keulen: Kürzlich habe ich vor meinen Studenten das Brahms-Konzert geübt. Beim Öffnen der Partitur dachte ich, es ist unglaublich, dass jemand aus dem Nichts diese Melodie erdacht und auf Papier geschrieben hat. Oder nehmen Sie Mozarts G-Dur-Konzert. Manche tun so, als ob sie nach der zweihundertsten Aufführung davon gelangweilt wären. Das geht doch gar nicht! Wenn man die Partitur eines anderen Menschen aufschlägt, muss man jedes Mal dieses Staunen suchen und ins Bewusstsein holen. Ich bekomme immer mehr Respekt vor der Musik, und das gibt enorme Energie.

CD-Tipp

Album Cover für Frid: Sämtliche Werke für Violine & Klavier

Frid: Sämtliche Werke für Violine & Klavier

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