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Interview Giuliano Carmignola

„Vivaldi ist mein Lebensgefährte“

Der italienische Meistergeiger Giuliano Carmignola begeistert sich seit seiner Kindheit für Barockmusik.

vonCorina Kolbe,

Für Giuliano Carmignola stand nie ernsthaft zur Debatte, seine Heimat Venetien zu verlassen, woher auch Antonio Vivaldi stammte. Weltweit gilt der Italiener heute als einer der besten Barockgeiger. Bei einem Treffen in einem italienischen Café in Potsdam sprach er über seine ungebrochene Leidenschaft für die Musik des Barock und seine neue Erfahrungen als Dirigent.

Was war das erste Vivaldi-Stück, das Sie vor Publikum aufgeführt haben?

Giuliano Carmignola: Das Konzert Nr. 6 a-Moll aus dem Zyklus „L’Estro Armonico“, daran erinnere ich mich noch sehr gut. Es war eine Schulaufführung, ich trug kurze Hosen. Mein Vater, der an der Schule Violine unterrichtete, dirigierte das Orchester.

Sie kommen also aus einem musikalischen Elternhaus?

Carmignola: Mein Vater spielte als Amateur auf hohem Niveau. Mit einem Rechtsanwalt, einem Arzt und einem Ingenieur führte er in der Kirche Santa Maria Maggiore in unserer Stadt Treviso italienische Stücke aus dem 18. Jahrhundert auf. Mit dieser Musik bin ich aufgewachsen. Die Atmosphäre in der Kirche hat mich immer fasziniert, und der Weihrauchduft liegt mir noch heute in der Nase.

Wann wurde Ihnen klar, dass Sie Musiker werden wollten?

Carmignola: Mit zwei oder drei Jahren fing ich an, meinen Vater zu imitieren. Zu Hause musizierte er mit meiner Mutter, die Klavier spielte. Dass ich Geige lernen wollte, stand für mich rasch fest. Bald bekam ich ein Instrument zu Weihnachten geschenkt. Schon damals ist meine Liebe zu Vivaldi erwacht, seitdem ist er eine Art Lebensgefährte.

Sie befanden sich genau am richtigen Ort, um sich eingehend mit diesem Komponisten zu beschäftigen …

Carmignola: Stimmt, die Wiederentdeckung seines Werkes war nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich von Treviso ausgegangen. Ende der vierziger Jahre begannen der Dirigent Angelo Ephrikian, ein enger Freund meines Vaters, und der Musikwissenschaftler Antonio Fanna mit der Arbeit an einem Katalog der gesamten Instrumentalstücke Vivaldis, der beim Mailänder Musikverlag Ricordi herauskam. Auch die venezianischen Komponisten Gian Francesco Malipiero und Bruno Maderna waren daran beteiligt.

Giuliano Carmignola
Giuliano Carmignola © Anna Carmignola

Zuerst unterrichtete Sie Ihr Vater, dann gingen Sie zu Luigi Ferro nach Venedig und zu Franco Gulli an die Accademia Chigiana in Siena.

Carmignola: Luigi Ferro war ein großartiger Vivaldi-Interpret. Er spielte bei I Virtuosi di Roma, dem ersten italienischen Ensemble, das diese Musik kurz nach dem Krieg in die ganze Welt brachte. In den fünfziger Jahren gaben sie einmal ein Konzert in Moskau. David Oistrach soll bei der Gelegenheit gesagt haben, er würde Vivaldi niemals so gut spielen können wie Ferro. In den Siebzigern ging ich dann selbst mit dem Ensemble auf Tourneen.

Aus Treviso, wo Sie noch heute leben, wollten Sie nie wegziehen.

Carmignola: Ich war anfangs ziemlich unsicher, welchen Weg ich als Musiker einschlagen sollte. Statt durch die Welt zu reisen, wollte ich lieber in der Nähe meiner Familie bleiben. Eine Zeitlang spielte ich auch im Orchester des Teatro La Fenice in Venedig. 1983 kam für mich ein Wendepunkt, als der Cembalist und Organist Andrea Marcon in Treviso I Sonatori della Gioiosa Marca gründete. Die Erfahrung mit diesem Ensemble hat mir einen völlig neuen Horizont eröffnet. Ich begann mich für die historisch informierte Aufführungspraxis zu interessieren und probierte aus, auf Darmsaiten und mit Barockbögen zu spielen. Seitdem habe ich auch häufig mit Formationen wie Marcons Venice Baroque Orchestra, Il Giardino Armonico, Accademia Bizantina, dem Kammerorchester Basel und Concerto Köln zusammengearbeitet.

Wie erklären Sie sich die Faszination, die Vivaldi auf ein breites Publikum ausübt?

Carmignola: Seine Stücke haben eine große Vitalität und einen unglaublichen Schwung. Manche Rhythmen erinnern fast an Rockmusik. Überall auf der Welt kennt man „Le quattro stagioni“, von denen es unzählige Aufnahmen gibt. Die Musik bereitet allen Zuhörern große Freude, egal ob sie sich in Europa, Amerika oder Asien befinden.

Sie interpretieren auch Werke späterer Epochen, Barockrepertoire bildet jedoch weiterhin den Schwerpunkt. Können Sie nach so langer Zeit noch Neues darin entdecken?

Carmignola: Ja, unbedingt! Ich finde immer wieder einen anderen Zugang. Diese Musik erschöpft sich nie. Sollte sich das jemals ändern, würde ich sofort aufhören. Zum Glück verspüre ich nach wie vor große Neugier und Entdeckerfreude. Andernfalls würde ich nur noch Fotokopien produzieren, es wäre eine Routine ohne jegliche Kreativität. Ich befasse mich intensiv mit Werken von Bach, Tartini, Corelli und Albinoni, außerdem mit Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und Mendelssohn. Seltener spiele ich Werke aus dem 20. Jahrhundert wie etwa das Violinkonzert von Alban Berg. Meine musikalische Welt ist eine andere.

Mit Claudio Abbado und seinem Orchestra Mozart haben Sie vor einigen Jahren Bachs Brandenburgische Konzerte und die Violinkonzerte von Mozart eingespielt. Zu Ihrer ersten Zusammenarbeit mit Abbado kam es aber schon viel früher.

Carmignola: 1974 nahm ich mit 23 Jahren in Moskau am Tschaikowsky-Wettbewerb teil. Mitglieder des Scala-Orchesters hörten mich in den Proben und erzählten Abbado von mir. In Mailand durfte ich ihm dann vorspielen, und schon wenige Monate später trat ich unter seiner Leitung als Solist in mehreren Theatern und Fabriken auf. Abbado wollte die Musik in die ganze Gesellschaft bringen. Auch der Pianist Maurizio Pollini war an diesen Projekten beteiligt. Ich fand das alles sehr aufregend, Abbado war für mich ein lebender Mythos. Er fragte mich immer wieder: „Warum willst du unbedingt in Treviso bleiben?“

Nach diesen Konzerten haben Sie Abbado erst nach dreißig Jahren wiedergetroffen.

Carmignola: Wir hatten uns lange aus den Augen verloren. 2004 erhielt ich plötzlich ein Fax, das mit „Claudio“ unterschrieben war. Er fragte mich, ob ich in seinem neuen Orchester (Orchestra Mozart, d. Red.) mitspielen wollte. Erst dachte ich, dass mich jemand auf den Arm nehmen wollte. Nach ein paar Tagen rief ich aus Neugier die Nummer an, die auf dem Fax stand. Er war tatsächlich am Apparat. Es war für mich sehr bewegend, nach so vielen Jahren wieder seine Stimme zu hören. Die Arbeit mit seinem Orchester in Bologna war eine geradezu magische Erfahrung, die dann wie alles im Leben leider irgendwann zu Ende ging.

Inzwischen stehen auch Sie ab und zu als Dirigent auf der Bühne.

Carmignola: Bei einigen Konzerten leite ich das Orchester als Solist vom Instrument aus, so wie es die Konzertmeister am ersten Violinpult zu Zeiten von Vivaldi und Mozart taten. Aber auch als Dirigent mit Taktstock trete ich gerne auf. Für mich ist es eine wunderbare Erfahrung, andere Musiker durch meine Blicke und Gesten zum Spielen zu bringen. Man verspürt eine ganz neue Freiheit.

Giuliano Carmignola und Concerto Köln interpretieren Vivaldi:

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Album Cover für
Un Italiano a Londra
Giardini: Violinkonzerte Nr. 1-6 op. 15 u. a.

Giuliano Carmignola (Violine), Accademia dell’Annunciata, Riccardo Doni (Leitung). Stradivarius

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