Startseite » Interviews » Blind gehört » „Wie ein Marmeladenbrot”

Blind gehört Calmus Ensemble

„Wie ein Marmeladenbrot”

Das Leipziger Calmus Ensemble hört und kommentiert Aufnahmen von Kollegen, ohne dass es erfährt, wer singt

vonChristian Schmidt,

Sie sind sozusagen gerade volljährig geworden: Schier unglaubliche 20 CDs hat das Leipziger Calmus Ensemble in ihren 18 Jahren aufgenommen und renommierte Preise eingeheimst – und trägt zudem den guten Ruf der Musikstadt Leipzig in alle Welt. Anders als die Kollegen vom gleichfalls in Leipzig beheimateten Ensemble Amarcord, das sich dereinst (wie auch das Calmus Ensemble) aus ehemaligen Thomanern rekrutierte, können die Calmusianer durch eine Sopranistin als Primaria und einen Countertenor auch Literatur für gemischte Stimmen singen – ein großer Vorteil für die Dramaturgie. Gelobt wird daher neben dem ungemein schlanken, fast asketischen Ton vor allem die Breite des Repertoires. Über die Jahre haben sie zahlreiche Kompositionsaufträge vergeben und arrangieren fleißig selbst. Wandelbarkeit, unbedingte Qualität und herzblütige Innigkeit – ein überzeugendes Erfolgskonzept. Einen Teil ihrer Zeit widmen die fünf Leipziger auch der Nachwuchsförderung. Im Interview stellen sich Bariton Ludwig Böhme und Tenor Tobias Pöche mit großem Vergnügen ausgefallener Vokalmusik.

Farmer: Fair Phyllis
Affabre concinui
AC 2002





Ludwig Böhme: Ein Klassiker der Workshop- Literatur, den hören wir oft, wenn wir Chöre oder Ensembles unterrichten, weil englische Madrigale sehr ergiebig sind, was Griffigkeit und musikalische Affekte betrifft.
Tobias Pöche: Das ist sicherlich kein englisches Ensemble, die Aussprache wirkt leicht gestelzt, kurz vor dem Schlussakkord wurde noch geatmet.
LB: Und vielleicht ein bisschen sportlich im Tempo. Gerade für Chöre ist der Dreiertakt in der Mitte eine Herausforderung, man muss die Temporelation plausibel gestalten. Ist aber ein schöner Klang, reines Männerensemble mit zwei Countertenören. Hast du eine Idee?
TP: Klingt nach osteuropäischem Akzent. Klar von den King’s Singers inspiriert. Affabre? Das haben wir schon mal gehört.
LB: Ich muss doch zum Anfang sagen, dass ich mit Kritik an Kollegen sehr vorsichtig bin. Als Musiker steckt man sehr viel Herzblut hinein, und dann kommt jemand und kann mit zwei, drei Worten die ganze Arbeit zunichtemachen. Das wäre bei handwerklichen Dingen völlig berechtigt, aber wenn es rein um Ästhetik geht, kränkt ein Verriss. Unseren Geschmack bringen wir bei Calmus in unseren eigenen Aufnahmen zum Ausdruck, was nicht unbedingt meinem persönlichen entsprechen muss. Unseren grundsätzlichen künstlerischen Output entscheiden wir zusammen.

Bach: Matthäuspassion, „Befiehl du deine Wege”
Thomanerchor Leipzig, Gewandhausorchester Leipzig, Christoph Biller (Leitung)
Rondeau 2007

  


TP: Sind das die Thomaner oder die Kruzianer?
LB: Also wenn es die Thomaner sind, ist die Aufnahme schon älter, vielleicht aus der Ära Mauersberger, weit vor meiner Zeit. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass die Fermaten in den Chorälen so lange ausgehalten wurden. Biller hat das damals nicht einheitlich gemacht und eher nach Affekt gestaltet.
TP: Ich war ja Kruzianer, vom Klang her würde ich eher Kreuzchor sagen.
LB: Ein Knabenchor ist ja noch mehr als ein Vokalensemble Phasen unterworfen, da er sich ständig verjüngt und jedes Jahr seine Besetzung ändert – und damit auch seinen Klang.
TP: Generell finde ich, dass die Thomaner eher härter und klarer klingen, die Kruzianer eher weich. Es darf nicht zu roh, zu derb werden.
LB: Hm, die Rezitativbehandlung könnte doch Biller sein, aber der Chorklang ist mir für die Thomaner zu wenig prononciert. Doch? Von 2007? Krass. Muss live sein.
LB: Neben Calmus bin ich auch Chordirigent: Klar probiert man auch Sachen aus, man verändert sich. Das habe ich sowohl aus der Zeit im Knabenchor erfahren, die uns beide sehr geprägt hat, als auch aus meinem Studium bei Biller. Hochinteressant, das zu hören. Ich bin jetzt 38, in der Mitte des Lebens. Da fängt man an zu spüren, wie stark einen diese Erlebnisse aus der Kindheit noch heute beeinflussen. Die Musik, die ich damals gesungen habe, ist mir viel klarer in Erinnerung als manches Werk, das wir heute aufführen.
TP: Die unbewusst eingeprägte Musikalität bleibt lebenslang hängen.

Silcher: In einem kühlen Grunde
Die Singphoniker (aus dem Album „Deutsche Volkslieder”)
Oehms Classics 2012

  



LB: Die Art zu singen erinnert an Singer Pur oder Singphoniker. Das liegt nah beieinander.
TP: Ja, im Unterbau. Das ist so eine südwestdeutsche Art der Vokalkunst, die sehr sängerisch, weich und auf Legato ausgelegt ist und sehr viel Individualismus zulässt. Relativ solistisch, aber trotzdem verschmelzend.
LB: Das wäre jetzt der Kontrast zu den King’s Singers, bei denen jede Farbe klar definiert und aufeinander abgestimmt ist: ein schöner gemeinsamer Klang, aber nicht überdiszipliniert.

Suchoň: Ej, dziny, dziny
The Gentlemen Singers (aus dem Album „LIVE”)
Bohemia Music 2005





LB: Man merkt, dass es live ist, klingt baltisch oder skandinavisch.
TP: Ich tippe auf Südosteuropa, war mir zu wenig Knack für den Norden.
LB: Bei Vokalensembles übertönen die hohen Stimmen häufig das Fundament, das wurde hier aber schön austariert. Ich vermute mal einen modernen Komponisten, knüpft an Kodály an. Stellt sich nur die Frage: Muss man eigentlich Live-CDs mit Vokalmusik herausgeben? Die Priorität bei einem Konzert ist, den Zuhörer unmittelbar zu erreichen, der vielleicht bis zu 60 Meter entfernt sitzt. Da deklamiert man schon ganz anders. Im Studio vibriert das Mikrofon, wenn man es nur ansieht. Die Unterschiede sind gewaltig. Beides gleichermaßen gut abzubilden, Konzert und CD, geht eigentlich nicht, das ist auch der Nachteil von Rundfunkmitschnitten.

Caldara: Ave maris stella
Vokalakademie Berlin (aus dem Album „Salve Regina”)
Rondeau 2016

  



TP: Ein italienischer unbekannter Meister, würde ich sagen. Diese Art von Musik gibt es ja auch en masse von mitteldeutschen Komponisten. Klingt immer schön und nett, reißt mich aber nicht vom Hocker. Das ist aber wirklich nicht negativ gemeint.
LB: Vielleicht kann man es so vergleichen: Wenn ich mir jeden Morgen am Frühstückstisch mein Marmeladenbrot schmiere, ist das auch eine sehr schöne Sache, kein kulinarischer Hochgenuss und nichts, worüber ich dauernd nachdenke, aber es gehört irgendwie dazu.

Rheinberger: Abendlied
Dresdner Kreuzchor (aus dem Album „800 Jahre Dresdner Kreuzchor”)
Berlin Classics 2016

  


LB: Das ist nun ein Stück, was man in- und auswendig kennt …
TP: … durch alle Stimmen hindurch …
LB: Ich bin ja mit einem Ensembleklang enger vertraut als mit einem Knabenchor und staune immer wieder, wie unterschiedlich das Resultat sein kann. Eine grundsolide Aufnahme, es ist alles so gemacht, wie es dasteht. Ich kenne die Partitur bis ins Detail. Präsenter Bass, nicht zu dominanter Sopran, das finde ich eigentlich gut. Trotzdem gefällt es mir solistisch besser, weil man dann durch die individuelle Subjektivität noch eine andere Innigkeit vermitteln kann. Rheinberger wird immer noch schwer unterschätzt.
TP: Das waren jetzt die Kruzianer, oder? Das ist ja einer der Lieblingshits für alle Chorsänger.

Traditional: Khöömei
Huun-Huur-Tu (aus dem Album „60 Horses in My Herd”)
Shanarchie 2016

  



LB: Der Obertongesang ist inzwischen sehr beliebt und kein Geheimtipp mehr. Ich kann das allerdings nicht.
TP: Huun-Huur-Tu war schon hier in Leipzig beim A-cappella-Festival zu Gast: sehr beeindruckend. Eine ganz andere musikalische Welt!
LB: Ich glaube grundsätzlich, dass man Folklore zwar fördern, aber nicht forcieren kann, entweder sie passiert oder sie passiert nicht – aus innerem Antrieb. Meine eigene musikalische Heimat definiert sich eher durch unsere kunstmusikalischen Wurzeln. Von da aus machen wir unsere Ausflüge in andere Welten.

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!