In Davos spielt die Musik in der höchstgelegen Stadt Europas. Spielt man hier oben anders? Wird die Bergwelt zur Inspirationsquelle?
Marco Amherd: Die Täler und Bergspitzen tragen am DAVOS FESTIVAL natürlich zur außergewöhnlichen Stimmung bei. Wo sonst ist es möglich, kurz vor einem Konzert noch die Aussicht aus 2590 Meter über Meer zu genießen und dann mit der Bergbahn gemütlich an die Konzerteinführung zu schweben? Was die Stimmung nebst dem Faktor Natur jedoch besonders prägt, ist die lange Residenz der Künstlerinnen und Künstler. Diese bleiben während der ganzen Festivaldauer in Davos und haben dadurch die Möglichkeit, intensiv in verschiedenen Kammermusikgruppen zu arbeiten, andere Musikerinnen und Musiker zu hören, ihr Netzwerk zu erweitern und auch einmal durchzuatmen. Dieses ungewöhnliche Setting wirkt sich auch auf den Klang und das Zusammenspiel aus, was die Konzerte am DAVOS FESTIVAL zu einem ganz besonderen Genuss macht.
Und hören die Menschen Musik hier oben anders als im Tal der großstädtischen Abonnements der großen Konzertsäle?
Amherd: Ich erlebe beim Davoser Publikum stets eine große Neugierde gegenüber ungewöhnlichen Konzertformaten und unbekannter Musik. Für einen vollen Konzertsaal sind hier nicht Komponisten wie Bach und Beethoven verantwortlich, sondern kreative Programme, die den Entdeckergeist wecken.
Davos ist im besonderen literarisch aufgeladen. Die Schatzalp wurde zur Kulisse für Thomas Manns Weltliteratur des „Zauberberg“, in dem die Musik wiederum eine entscheidende Rolle spielt. Wie greifen Sie die Aura dieses Ortes auf, an dem in diesem Jahr einige Konzerte und eine Oper gespielt werden?
Amherd: Bereits als ich zum ersten Mal die Schatzalp besuchte, war ich fasziniert von der atemberaubenden Aussicht und der einmaligen Atmosphäre, die das Hotel Schatzalp ausstrahlt. Die Schatzalp ist für mich ein Ort, an dem alles möglich scheint. Sie kann Kulisse sein für ein kitschiges Bergpanorama, man kann sich dort aber auch eine Krimiszene sowie Dinner mit Philosophinnen und viel Prominenz vorstellen. In diesem Jahr hat mich die Schatzalp auch zu einem Abend mit Walliser Sagen und Musik zum Gruseln inspiriert. Ich hoffe, dass sich das Publikum für das Morbide begeistern lässt und sich den Schauer kalt über den Rücken laufen lässt.
Tourneeprogramme, die es überall zu hören gibt, sind beim DAVOS FESTIVAL gleichsam verboten. Wie entstehen die einzelnen Programme? Wird da der Intendant zum Trüffelschwein? Oder gibt es einen intensiven Austausch mit den Young Artists?
Amherd: Ich liebe es, in meinen Konzertprogrammen Geschichten zu erzählen, Fantasien zu wecken und auch einmal zu irritieren. Dabei ist mir stets eine Prise Humor wichtig, die den manchmal arg strengen klassischen Konzertbetrieb etwas auflockert. Deshalb bin ich stets auf der Suche nach unbekannten Werken, dies es wert sind, wieder entdeckt zu werden. Ich höre dafür viele Aufnahmen und Konzerte, suche in Archiven und Werkverzeichnissen und lasse mich durch Literatur und Zeitungen inspirieren. Das Entwerfen eines Konzertprogramms gleicht für mich dem Konzipieren einer neuen Komposition. Im Konzert sollen sich die einzelnen Werke ergänzen, kommentieren, hinterfragen und neue Bezüge möglich machen. So können auch bekannte Werke frisch erklingen. Sobald meine Programme fertig sind, spreche ich mich mit den jungen Künstlerinnen und Künstlern und versuche sie von meinen Ideen zu überzeugen. Meist lassen sich diese auch auf meine Ideen ein und wagen sich an neues Repertoire.
Schon das Motto im vergangenen Sommer changierte mit „Aequalis“ listig zwischen einem politischen und einem durchaus auch musikalischen Begriff. Das Flunkern, also der liebevolle Euphemismus für die Lüge, lässt nun wiederum an aktuelle Praktiken in der Politik denken. Wie spielen die große Welt und die Musik hier zusammen?
Amherd: Die Biographie einer Komponistin beeinflusst stets ihr Werk. Jede Komposition ist daher in einem speziellen historischen und politischen Kontext entstanden. Ich finde es schade, wenn dieser Aspekt ausgeblendet und das Werk vollkommen von seinem Erschaffer getrennt wird. Musik hat für mich stets eine Relevanz, und ich möchte diese in den Davoser Programmen auch auf eine verspielte Art hör- und erfahrbar machen. Musik kann Menschen berühren, sie aber auch aufschrecken und mit der Wirklichkeit konfrontieren.
Ist das Verhältnis aus Wahrheit und Lüge nur dialektisch zu fassen?
Amherd: Zwischen Wahrheit und Lüge existieren viele Grautöne. Auch in der Wissenschaft verändert sich der aktuelle Stand der Forschung stets und durch den Erkenntnisgewinn kommen wir der Wahrheit etwas näher, können sie aber stets nicht greifen. Und es macht ja auch einen großen Unterschied, ob ich bei meinem Alter ein paar Jahre wegschummle, oder ob ich behaupte, die Erde sei eine Scheibe. Gewisse Flunkereien sind charmant und belustigend, andere manipulativ und destruktiv. Daher fasziniert mich das Motto so sehr. Flunkern gehört zu unserem Alltag und ist auch ein Schmiermittel der Gesellschaft.
Welche persönliche Entdeckung haben Sie in der Vorbereitung des Programms beim Erforschen kompositorischer Lügen gemacht? Und wo erwarten Sie verblüffende Aha-Erlebnisse des Publikums?
Amherd: Ich freue mich besonders auf das Konzert „Auf der Anklagebank“, bei dem Musik für Streichorchester und Klavierquintett der polnischen Komponistin Grazyna Bacewicz auf eine Uraufführung von Naomi Pinnock trifft. Klimaberichte von 1971 und 2022 zeigen die Auswirkungen des Klimawandels auf, Naomi Pinnock hat diese Eindrücke musikalisch eingefangen. Uraufführungen üben auf mich immer einen ganz besonderen Reiz aus, da ihre Rezeption nicht vorausgesagt werden kann. Ich hoffe natürlich (wie auch bei unserem Umgang mit der Natur) auf Nachhaltigkeit. Ich bin aber auch bei allen anderen Konzerten gespannt, ob meine Ideen aufgehen und das Publikum sowie die Künstlerschaft in jedem Konzert neue Lieblingsstücke entdecken.
Viele Gäste – neugierige Ohrenmenschen aller Altersklassen – kommen seit mehreren Jahrzehnten nach Graubünden, weil sie in Davos ein so unerhört ungewöhnliches Programm von so exzellenten wie maximalmotivierten jungen Interpreten erleben können. Wie erleben Sie das Publikum des Davos Festival? Entsteht ein besonders persönlicher Austausch mit den Young Artists?
Amherd: Für unser Publikum sind die vielen ungezwungenen Rahmenveranstaltungen eine gute Möglichkeit, um die Musik und unsere Young Artists von einer anderen Seite zu erleben. Sei es beim Offenen Singen am Morgen, bei der Festivalwanderung, bei einer Balletteinführung mit unseren Tänzern oder bei einer offenen Bühne im Bahnhof – unsere Musikerinnen und Musiker mischen sich gerne unter das Publikum und es entstehen jeweils angeregte Diskussionen über passende und unpassende Programmideen, über musikalische Visionen und Zukunftspläne. Es hilft natürlich auch, dass die Young Artists in mehreren Konzerten über das ganze Festival hinweg zu erleben sind. Dadurch kann das Publikum ganz unterschiedliche Facetten der Künstlerinnen und Künstler entdecken und diese auf ihrem Weg begleiten.
Das DAVOS FESTIVAL denkt die Klassik unabhängig von Marktzwängen, frei von Erwartungen an bestimmte Stars oder beliebtes Kernrepertoire. Wie wird gerade diese Haltung zum Erfolgsrezept?
Amherd: Das DAVOS FESTIVAL ist ein Entdeckerfestival. Ich finde es ein großes Glück, wenn man junge Musikerinnen und Musiker hören kann, bei denen man im Vorfeld nicht alle Aufnahmen studieren kann und bereits eine vorgefertigte Meinung hat. So steht stets die Musik und die Interpretation im Zentrum. Beethovens Sinfonien kann man in jedem größeren Konzertsaal hören. Das Klaviertrio von Johanna Doderer, Musik für High Heels von Mayke Naas und Chormusik von Olivier Messiaen treffen nur in Davos aufeinander. Es ist natürlich auch ein großes Glück, dass das Davoser Publikum diese Kombination schätzt und solche Programme erst ermöglicht.
Was ist für Sie die besondere Mission und Vision des DAVOS FESTIVAL?
Amherd: Das DAVOS FESTIVAL steht im Dienste der jungen Künstlerinnen und Künstler und möchte ihnen eine Bühne bieten. Das Festival bietet ihnen Raum zum Ausprobieren und zum Wachsen. Dazu gehört ein Publikum, dass Freude an Entdeckungen hat und Musik mit allen Sinnen genießen möchte.