Über Jahrhunderte hat die Stadt Leipzig vom Kulturaustausch in Europa profitiert. Sie war Anziehungspunkt und Ausstrahlungsort für Musikerinnen und Musiker, die die kulturelle Identität der Stadt wesentlich geprägt haben und deren Erbe das Projekt „Europäische Notenspuren“ seit einer Ausstellung im Jahr 2017 mit zahlreichen Aktivitäten lebendig hält. So findet vom 15. bis 22. November bereits zum fünften Mal das Festival „Europäische Notenspuren“ statt, das dem Leipziger Musikleben frische Impulse liefert, indem es Komponisten und Musikerinnen, die hier gelebt und gewirkt und durch ihr Schaffen Einfluss auf das europäische Musikleben ausgeübt haben, in den Mittelpunkt stellt und perspektivisch vielfältig beleuchtet. Das diesjährige Festival unter dem Motto „Shir chadasch – ein neues Lied“ ist zugleich Auftakt für eine mehrjährige Beschäftigung mit dem jüdischen Musikerbe Leipzigs und den Klängen aus Ost und West, die sich heute wie damals in Leipzig begegnen.
Wanderung nach Leipzig auf den Pfaden der Vorfahren
Zur Eröffnung am 15. November in der Alten Nikolaischule wandelt Karolina Trybała auf den Spuren ihrer Vorfahren, die aus Galizien in Osteuropa stammen. Begleitet von Akkordeonist Mateusz Tadeusz Dudek und Geiger Alexander Bersutsky rahmt die in Leipzig lebende Sängerin ihre mitreißenden Interpretationen von Klezmer-Klassikern, alte Tangos und Songs aus den jüdischen Theatern aus Lemberg, Krakau und New York mit dem Konzerttitel „Tate – Mame“ (jidd.: Eltern, poln.: Papa – Mama).

Am folgenden Vormittag erkundet eine musikalische Stadtführung mit Mitgliedern des Salonorchesters „Salon Krause“ das jüdische Leben und die jüdische Musik im Kolonnadenviertel vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Orte jüdischen Wirkens waren hier die beiden größten Synagogen der Stadt – die liberale Große Gemeindesynagoge und die orthodoxe Ez-Chaim-Synagoge – sowie das Neue Leipziger Operettentheater im Centralpalast. Abends begibt sich im Ariowitsch-Haus einer der letzten Synagogenchöre Europas, der Straßburger Männerchor La Chorale Le Chant Sacré, auf eine Entdeckungsreise durch die jüdisch-askenasische Liturgie des 19. Jahrhunderts. Außerdem erklingen sephardische Lieder der spanischen Juden, die Ende des 15. Jahrhunderts vertrieben wurden, und chassidische Gesänge.
Eine weit verzweigte Tradition jüdischen Lebens und Komponierens
„Ba-derech – auf dem Weg“ nennt der Pianist und Musikwissenschaftler Prof. Dr. Jascha Nemtsov sein Programm mit Werken von Fanny Hensel, Erwin Schulhoff und von weniger bekannten Komponisten wie Alexander Weprik, Joseph Achron oder Edi Tyrmand, mit denen er am 18. November im Gartenhaus des Mendelssohn-Hauses Einblicke in jüdische Musik entlang der Via Regia gibt. Im Einklang mit der Ökumenischen FriedensDekade folgt der Gottesdienst am Buß- und Bettag in der Nikolaikirche dem Aufruf „Komm den Frieden wecken“. Hier setzen Festivalmusikerinnen und -musiker ein Zeichen für Verständigung, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung.

Wer aber könnte Freude und Leid der Schöpfung ausgelassener feiern und herzergreifender beklagen als die Leipziger Balkan-Band Herje Mine – zumal, wenn sie zusammen mit der israelischen Sopranistin Shira Bitan in der intimen Atmosphäre des Ring-Cafés auftritt? Am 21. November treffen hier Ladino-Lieder der spanischen Juden auf jüdische liturgische Dichtungen – Pijjutim genannt – die in neuen Arrangements erklingen.
Hausmusik à la carte
Den Abschluss des Festivals bildet die beliebte „Notenspur-Nacht der Hausmusik“ am 22. November in ausgewählten Leipziger Privatwohnungen, die von Gastgebern kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Künstlerinnen und Künstler spielen unentgeltlich ein Programm ihrer Wahl und tauschen sich mit den Gästen über Ihre Liebe zur Musik aus. Der Eintritt ist frei. In den freien Genuss jüdischer Musiktraditionen kommt im Rahmen der „Europäischen Notenspuren“ auch der Nachwuchs: An drei Vormittagen besuchen Festivalmusikerinnen und -musiker Leipziger Schulen, kommen dort mit Schülerinnen und Schülern ins Gespräch und geben in Workshops auch Einblicke in Biografien einstiger Leipziger Komponisten und Musiker.

Als Spiegel des jüdischen Musikschaffens in Leipzig geben die „Europäischen Notenspuren 2025“ auch einen Ausblick auf „Tacheles“, das „Jahr der jüdischen Kultur in Sachsen“, das 2026 mit Projekten, Veranstaltungen und Ausstellungen die dortige jüdische Geschichte und Kultur sowie das jüdische Leben sichtbar machen möchte.

