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Opern-Kritik: Staatstheater Nürnberg – Götterdämmerung

Morgenröte der Menschheit

(Nürnberg, 11.10.2015) Vollendet: Eine der musikalisch und szenisch stärksten Ring-Deutungen unserer Zeit

vonPeter Krause,

Was Wagner wirklich bewegte, waren die Erotik und die Revolution. Gern verquickte er beides – die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und Machtsystemen wollte er mal auf den Barrikaden von Dresden erkämpfen und – entzündet durch sein Dirigat der Freude schöner Götterfunken – gleich jede alte Ordnung niederbrennen; dann wieder propagierte er die freie Liebe, die er am Rande seiner Ehen gern auch selbst praktizierte und in seinen Dramen ein Denkmal setzte: eines seiner utopischsten Paare, Siegmund und Sieglinde, sind gar ein Zwillingspaar, mit Brünnhilde und Siegried vereinen sich immerhin Tante und Neffe, auch bei den Geschwistern Gutrune und Gunther ist deutlicher Verdacht angebracht, dass zwischen den Geschwistern was läuft.

Zumal ein Regieteam, das den kompletten Ring schmiedet, sollte sich Wagners Koordinatensystem aus Erotischem und Politischem bewusst machen und im besten Falle eine stimmige Übersetzung des vom 19. Jahrhundert überwölbten Mythos ins Heute wagen. Das kann natürlich auch grandios scheitern, wenn die beiden Themen weniger aus dem Werk abgeleitet, sondern beispielsweise als oralsexuelle Altherrenfantasien und postpubertäre sozialistische Komplexe auf die Tetralogie projiziert werden – so geschehen im aktuellen Bayreuther Ring und dessen Team um Dekonstruktionsweltmeister Frank Castorf.

Aktualisierungsfuror: Echte Flüchtlinge spielen mit

In Nürnberg hat sich nun ein Ring gerundet, der in seinem Aktualisierungsfuror eigentlich sogar weitergeht als die fränkische Nachbarinszenierung und entschieden die unmittelbare Gegenwart reflektiert – so als Statisten gar „echte“ Flüchtlinge und Wohnungslöse auf die Bühne bringt. Reality soap.

Scharf gezeichnete Figurenportraits

Wo Regisseur Georg Schmiedleitner gegenliest, wo er ironisiert, wo er zuspitzt und zumutet, tappt er doch nie in die Falle des Zynismus und verleugnet doch nie das grundlegende theatralische Erfordernis, scharfe Figurenportraits zu zeichnen und mit ihnen stringent eine Geschichte zu erzählen. Beides tut er mit der Kraft und Deutlichkeit des Schauspielmanns, der die Sänger ermuntert, ihre Figuren wirklich bewusst zu reflektieren und in deren kompletter Durchdringung ans eigene Limit zu gehen. Dazu stehen ihm Sängerdarsteller zur Verfügung, von denen jedes Haus der Welt nur träumen kann. Und Schmiedleitner schließt sich konstruktiv mit einem Dirigenten kurz, der eben nicht „Wagner wie immer“ macht – mit all den Überschreibungen einer Pathospatina, die noch aus dunkelster deutscher Vergangenheit stammt – sondern der wieder an den klanglichen und rhetorischen Kern dieser grandiosen Musik heran will.

Marcus Bosch dirigiert Wagner aus dem Geiste Mendelssohns

Generalmusikdirektor Marcus Bosch denkt die Götterdämmerung in ihrer –nach dem allfälligen Untergang der alten Garde – ja auch ganz positiven Vision einer neuen Morgenröte der Menschheit aus dem Geiste Mendelssohns heraus. Den Gegenpol zum Zusammenbruch der alten Welt gleich zu Beginn des Werks lässt er mit seiner glänzend aufgelegten Staatsphilharmonie Nürnberg in einer gar flüssigen Leuchtkraft so seidig und durchsichtig musizieren, als hätte das Orchester zum Aufwärmen vorab Mendelssohns „Italienische“ gespielt. Der Klangfarbenzauber ist fein ausgelotet, die sprechende Kraft der kleinen Notenwerte kommt munter sprudelnd zum Ausdruck. Der krachende Gegenpol des Stücks zu dieser ausmusizierten Zärtlichkeit, zumal Hagens vorgeblich kriegstreiberische Machtgestik, kommt mit nicht minder pointierter, ja aggressiver Schärfe der Artikulation rüber. Da musiziert unter Boschs animiert präzisem Dirigat so etwas wie ein wissendes Orchester. Welche Wonne, ihm zuzuhören! Die hellen Seiten in einem der dunkelsten Werke Wagners so erkenntnisfördernd aufgeblättert zu kriegen, ist ein Ereignis. Den sonst gern so ewig langen 1.Aufzug nebst oft gern langweiligem Nornen-Vorspiel hat man kaum je in solcher hochgespannt soghaften Kurzweil gehört – und gesehen, denn das Konzept geht aufs gemeinsame Konto von Dirigent und Regisseur.

Siegfried Vincent Wolfsteiner singt ein hohes C von hohen Gnaden

Wenn letzterer die Halle der Gibichungen als nüchtern grell ausgeleuchtete Firmenzentrale eines mit Informationen handelnden Imperiums der Medienwelt vorführt, gelingt ihm mit seinem Bühnenbildner Stefan Brandtmayr eine treffliche Übertragung der Welt des intelligenten Intriganten Hagen in die Gegenwart. Das in der Halle prangende „G“ erinnert allzu verdächtig an Google, den real existierenden Big Brother des 21. Jahrhunderts. Wenn der kühle Stratege Hagen den Helden Siegfried sogleich erkennt, ohne ihm je begegnet zu sein, erhalten Wagners Dialoge verblüffende Plausibilität: „Du hießest mich Siegfried, sahst Du mich schon?“ Na klar, Hagen was watching him. Wie der lederbehost unbedarfte Herr Siegfried hier sogleich manipuliert wird, ist unmittelbar einleuchtend. Welch ein Duo: Der wuchtig körperliche, gleichwohl kultivierte, nie ins Bellen verfallende Bassbösewicht Woong-Jo Choi als Hagen und Vincent Wolfsteiner als heldentenoral heller, naiv sonniger, moralfreier Siegfried-Kindskopf, der so gar keine sängerische Ermüdung zu kennen scheint und im dritten Aufzug noch ein müheloses hohes C von hohen Gnaden singt. Der jetzt vom Staatstheater Nürnberg an die Oper Frankfurt wechselnde Sänger dürfte bald in die erste Garde im engen Wagnermarkt aufsteigen.

Oralerotik als Weg zum Werk

Wenn dieser Siegfried nun seine Brünnhilde in Verkleidung Gunthers wiedertrifft, um die eigene Gattin als Braut des neuen Freundes zu werben, lässt ihn Regisseur Schmiedleitner – wie weiland Castorf im Aufeinandertreffen von Wotan und Erda – in die Regionen der Oralerotik herabsteigen. Hier ist der Einfall indes nicht peinlich, sondern zeigt die im Text schwurbelig angedeutete Vergewaltigung in der Brutalität, mit der sie von Wagner mutmaßlich gemeint und jedenfalls musikalisch beglaubigt wird. Schmiedleitner mischt Humor mit großem und mitunter bitterbösem Ernst, die ironische Brechung ist kein Selbstzweck, sondern führt zum Werk zurück. Und – wiederum in Abgrenzung zu Bayreuth – er interessiert sich für Brünnhilde, Wagners „wahre wissende Erlöserin“. Rachel Tovey gibt sie als im Lieben wie im rächenden Hass starke, prinzipientreue, ihrer selbst bewusste Frau, und singt sie nicht einfach nur mit durchschlagendem dramatischen Sopran und ein paar Schärfen in der Höhe, sondern vor allem anrührend, verletzlich, am Ende mit wunderbaren Piani im „Ruhe, ruhe Du Gott“. Eine der der musikalisch und szenisch stärksten Ring-Deutungen unserer Zeit ist nun in Nürnberg zu bestaunen.

Staatstheater Nürnberg

Wagner: Götterdämmerung

Marcus Bosch (Leitung), Georg Schmiedleitner (Inszenierung), Stefan Brandtmayr (Bühne), Alfred Mayerhofer (Kostüme), Vincent Wolfsteiner, Woong-Jo Choi, Antonio Yang, Jochen Kupfer, Rachel Tovey, Ekaterina Godovanets, Roswitha Christina Müller

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